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Ausgabe 78-2/1999

THE TIC CODE

Produktion: Jazz Films Inc.; USA 1997 – Regie: Gary Winick – Buch: Polly Draper – Kamera: Wolfgang Held – Schnitt: Bill Pankow, Kate Sanford, Henk van Eeghen – Musik: Michael Wolff – Darsteller: Gregory Hines (Tyrone), Polly Draper (Laura), Christopher Marquette (Miles), Desmond Robertson (Todd) u. a. – Länge: 89 Min. – Farbe – Verleih: Advanced Film München (35mm) – Weltvertrieb: Overseas Film Group, 8800 Sunset Blvd, Los Angeles CA 90069, USA, Fax 001-310-8550719 – Altersempfehlung: ab 10 J.

"The Tic Code" erzählt nach Motiven aus dem Leben des amerikanischen Jazzpianisten Michael Wolff – Ehemann der Drehbuchautorin Polly Draper, die auch die Mutter im Film spielt – die Geschichte des zwölfjährigen Miles, der am Tourette-Syndrom leidet, einer Erbkrankheit, die sich in unkontrollierbaren Zuckungen (Tics) und dem unwillkürlichen Hervorstoßen von Lauten äußert. Keine Spur davon zeigt sich jedoch, wenn er am Klavier sitzt und begnadet Jazz spielt. Sein Vater, ebenfalls Jazzpianist, hat die Familie verlassen, und Miles lebt mit seiner Mutter Laura zusammen, die ihn überfürsorglich bemuttert.

Nach der Schule geht er mit seinem Freund Todd in einen Jazzclub, um Musik zu machen. Von den alten Profis hier wird er akzeptiert und sein Talent anerkannt. Eines Tages lernt er den schwarzen Jazzposaunisten Tyrone kennen, der ihn auffordert, ihn zu begleiten. Vor Aufregung bekommt Miles einen Tic-Anfall und erfährt so, dass Tyrone an der gleichen Krankheit leidet. Die beiden werden Freunde, als sie sich kurze Zeit später wieder treffen und Miles diesmal so ruhig ist, dass sie zusammen musizieren können. Tyrone ist es auch, der Miles von den grausamen Nachstellungen des Klassenrowdys befreit, indem er diesem weismacht, bei den Zuckungen handle es sich um einen Code (den titelgebenden Tic Code), den nur Auserwählte beherrschen. Fortan bettelt der Rabauke darum, in das Geheimnis eingeweiht zu werden. Durch die Freundschaft mit Miles macht Tyrone die Bekanntschaft Lauras, und sie verlieben sich. Laura ist froh, jemanden zu haben, mit dem sie über Miles' Krankheit reden kann. Tyrone jedoch hat sein Leiden völlig aus seinem Leben verdrängt und kann die ständigen Gespräche darüber nicht ertragen. Die Beziehung droht, zu scheitern.

Ein geplanter Ausflug mit dem Vater schrumpft zu einem kurzen Treffen am Flughafen auf der Durchreise; der Vater ist zu beschäftigt, aber im Grunde ist es ihm unangenehm, mit seinem 'behinderten' Sohn gesehen zu werden. Für Miles ist die Begegnung eine schwere Prüfung. Er verzichtet darauf, beruhigende Medikamente zu nehmen, und es kostet ihn einen gewaltigen Kraftaufwand, sich so unter Kontrolle zu halten, dass er seinem Vater ohne die peinlichen Zuckungen gegenübertreten kann. Dieser verkennt dies völlig, glaubt, es sei eine Besserung eingetreten und macht sich, wieder einmal, über Miles' Krankheit lustig. Schwere Schuldgefühle lasten auf Miles. Ist er die Ursache dafür, dass seine Mutter nicht glücklich wird? Hat sein Vater sie seinetwegen verlassen? Verzweifelt beschließt er, sich umzubringen.

Allein die Finanzierung des Films dauerte vier Jahre, was nicht erstaunlich ist, bricht er doch mit mehreren US-Tabus gleichzeitig. Er hat keinen Star als Kassenmagneten – Polly Draper ist zwar eine bekannte Fernsehdarstellerin, im Film jedoch weitgehend unbekannt, und Schwarze (Gregory Hines) zählen nicht. Dann enthält er eine Liebesgeschichte zwischen einem farbigen Mann und einer weißen Frau – dafür ließe sich in Deutschland und Japan niemals ein Verleiher finden, war das Argument. So bestürzend diese Einschätzung deutscher Befindlichkeiten auch sein mag, so genugtuend ist es, dass diese Voraussage nicht eintraf – ein deutscher Verleih hat zugegriffen. Und schließlich macht er eine (im Unterschied etwa zu Krebs) wenig 'attraktive' Krankheit zum zentralen Thema – was zu dem absurden Vorschlag führte, die Tourette-Problematik (dramaturgischer Dreh- und Angelpunkt der Geschichte) einfach fallen zu lassen.

Dass dennoch ein solch anrührender und dabei völlig unsentimentaler, spannender Problem-, Jugend-, Liebes-, Musikfilm entstand, ist der Hartnäckigkeit der Produzenten (Polly Draper, Michael Wolff, Karen Tangorta) und der durchweg grandiosen Leistung der Darsteller zu verdanken. Allen voran Christopher Marquette als Miles, der als von der Krankheit selbst nicht Betroffener ein schier unglaubliches schauspielerisches Talent an den Tag legt.

Bei der Berlinale '99 lief der Film im Programm des KinderFilmfests, wo er, zusammen mit dem iranischen Film "Mutterliebe" von Kamal Tabrizi, den Preis des Deutschen Kinderhilfswerkes errang. Ein Glücksfall für diese Sektion und eine Blamage für die anderen. Denn im Grunde war "The Tic Code" nicht ausschließlich als Jugendfilm konzipiert. Seine Perspektive ist keineswegs nur die des Jungen, er stellt ihn vielmehr gleichgewichtig neben die anderen Figuren. Dass ein jugendliches Publikum dies zu schätzen weiß und sich ernst genommen fühlt, zeigt sich daran, dass ihn die Kinderjury in Berlin mit dem Gläsernen Bären für den besten langen Film auszeichnete.

Gerold Hens

 

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Ausgabe 78-2/1999

 

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