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Ausgabe 47-3/1991

FÃœR IMMER MERY

MERY PER SEMPRE

( zum Film ÃœBERLEBEN IN PALERMO)

Produktion: Numero Uno International / Sacis / Taurus Film, Italien 1989 – Regie: Marco Risi – Drehbuch: Sandro Petraglia, Stefano Rulli, nach dem Roman von Aurelio Grimaldi – Kamera: Mauro Marchetti – Schnitt: Claudio di Mauro – Musik: Giancarlo Bigazzi – Darsteller: Michele Placido (Lehrer), Alessandro di Sanzo (Mery), Claudio Amendola (Pietro), Francesco Benigno (Natale), Roberto Mariano (Antonio) u. a. – Laufzeit: 92 Min. – Farbe – FSK: ab 12 – Verleih: Arsenal (35mm) – Altersempfehlung: ab 14 J.

Robin Williams hatte es noch verhältnismäßig leicht in seinem "Club der toten Dichter": Sein Arbeitsfeld war eine Schule für höhere Söhne, in der es "nur" darauf ankam, die Schüler zu selbstständigem Denken zu erziehen. Ungleich schwerer ist dagegen der Job Michele Placidos als Lehrer Marco Terzi, der sich freiwillig im Malaspina, dem Jugendknast von Palermo, bewirbt. "Seine" Jugendlichen können teilweise weder lesen noch schreiben, und ihre Motivation ist angesichts ihrer Lebensverhältnisse in den Slums der sizilianischen Metropole denkbar gering. So zum Beispiel Natale, der Anführer: Er ermordete den Mörder seines Vaters, eines Mafiosi. Er ist nur ein Beispiel für diese Jugendlichen, die in einem Klima von Gewalt, mangelnder sozialer Perspektive und Hoffnungslosigkeit aufwuchsen. Nach und nach gelingt es Terzi, das Vertrauen der Schüler zu erringen, auch weil er sich in Auseinandersetzungen zwischen den Kids und der Leitung des Knasts stets auf die Seite seiner Schützlinge stellt. Dieses Vertrauen – aber auch sein eigenes Selbstverständnis – wird durch die Einlieferung des jungen Schwulen Mario, der sich selbst Mery nennt, auf eine schwere Probe gestellt. Als er zum Opfer von Gehässigkeiten und Gewalt einiger Jugendlicher zu werden droht, stellt sich Terzi schützend vor ihn. Ergebnis: Die Kids fühlen sich zu Gunsten von Mery vernachlässigt. Wie es Terzi dennoch gelingt, gegen deren Widerstände und vor allem gegen den Widerstand der Anstaltsleitung so etwas wie Gemeinschaftsgeist und Lernwillen zu erzeugen, erzählt "Für immer Mery", der erste von zwei Spielfilmen des Italieners Marco Risi.

"Überleben in Palermo" sieht die Jugendlichen aus dem Knast entlassen auf den Straßen von Palermo, wo sie im Sinne des Wortes um ihr Überleben kämpfen. Einer wird von einem Polizisten auf offener Straße hingerichtet, ein weiterer das Opfer eines Racheaktes. Als Vorbestrafte ohne Ausbildung gibt es für sie keine Jobs, und die Versuche einzelner, als Kleinhändler zu existieren, werden im Vorschriftenwirrwarr erstickt, denn ohne Realschulabschluss keine Lizenz und ohne Lizenz kein Verkauf und wieder kein Geld.

Lange Zeit war die soziale Realität des Landes aus dem italienischen Kino verschwunden. Die renommierten, aber auch die neuen Regisseure schienen sich mehr für den Abgesang aufs Kino zu interessieren, als für das, was sich tagtäglich in den Städten und auf den Straßen ereignet. Nun aber wendet sich das nationale Kino wieder der katastrophalen Lage vieler Menschen im Lande zu. Ein Beispiel dafür sind die beiden Filme Marco Risis, die sich in bester neorealistischer Tradition dem Leben der Unterdrückten und Verzweifelten aus deren Perspektive nähert. Wie schon die Neorealisten arbeitete Risi dabei bewusst mit Laienschauspielern. Ein Verfahren, das entscheidend zur authentischen Atmosphäre der beiden Werke beiträgt.

Kommt "Für immer Mery" noch als eher konventionell erzählte Geschichte daher, in welcher sich ein Lehrer bewähren und an seinen eigenen Maßstäben messen lassen muss, so zeigt "Überleben in Palermo" ein ungeschminktes Bild der Zustände in der sizilianischen Stadt und ermöglicht mit seiner episodischen offenen Struktur einen tieferen Einblick in die Verhältnisse. Auch unsere Sichtweise auf die Jugendlichen ändert sich in beiden Filmen: Erleben wir sie in "Für immer Mery" mehr als Täter – vor allem im Verhältnis zum schwulen Titelhelden Mario, der sich selbst Mery nennt – so sind sie in "Überleben in Palermo" Opfer der gewalttätigen Situation in der Stadt und ihren Slums. Was nicht ausschließt, dass sie ihrerseits jederzeit bereit sind, zur Gewalt zu greifen.

Risis Filme zeigen die Kids, wie sie sind: ohne zu schönen, aber auch ohne zu verdammen. Sie zeigen aber auch die Ohnmacht des Staates, mit diesem Problem vernünftig umzugehen; für den sind die Jugendlichen bestenfalls Namen und Nummern auf Aktendeckeln und keine Menschen.

Lutz Gräfe

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 47-3/1991 - Filmbesprechung - ÃœBERLEBEN IN PALERMO

 

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Ausgabe 47-3/1991

 

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