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Ausgabe 47-3/1991

"Das Jahr der Machete"

Plädoyer für die Langsamkeit

(Film in der Diskussion zum Film DAS JAHR DER MACHETE)

Irgendwo in einem Dorf in Mittelamerika – unweit des Regenwaldes – lebt der 14-jährige José mit seinem Vater. Genauso wie die Erwachsenen schlägt er mit der Machete das Zuckerrohr. José erinnert sich: Vor drei Jahren war alles noch anders. Aus wirtschaftlicher Not war der Vater gezwungen, sein Geld in der Stadt zu verdienen, und José versuchte, durch Schuhputzen etwas zum Lebensunterhalt beizusteuern. Eine entwürdigende Situation für Vater und Sohn. Der Regisseur Karl Schedereit, mit jahrelangen Lateinamerika-Erfahrungen, erzählt über das alltägliche Leben in der Dritten Welt mit unspektakulären Bildern, die dem langsamen Lebensrhythmus der Region entsprechen.

Plädoyer für die Langsamkeit
von Karl Schedereit

Die Ruhe des Films entspricht seinem Thema – und dem Lebensrhythmus in Lateinamerika. In internen Vorführungen haben Kinder, Jugendliche und Erwachsene gesehen. Auch von etlichen Kinderfilm-Experten, vom Bewertungsausschuss der FBW, von der FSK ist der Film begutachtet worden.

Die Macher des Films sind irritiert durch entgegen gesetzte Beurteilungen: Auf Testvorführungen in München, Meran, Biberach und Antwerpen wurde seine "Ruhe" und "Strenge" als wohltuend, als Befreiung vom gegenwärtigen Trend zu immer größerer "Verdichtung" und "Überrumplung" durch Schnitt/Tontechnik empfunden. Kinder wirkten weder gelangweilt noch desinteressiert. Dagegen nennen "Experten" des Kinder- und Jugendfilms – mit Ausnahmen: die FBW gab ein Prädikat – den Film "langweilig" und "öde" und empfehlen dringend eine Kürzung auf 60 Minuten und einen ausführlicheren Monolog des Hauptdarstellers. Wieder im Gegensatz dazu akzeptieren andere "Experten" in Verleih und Auslandsvertrieb den Film so, wie er ist.

Die Macher des Films haben darüber nachgedacht, warum es bei der Beurteilung eines "langsamen" Filmes so unterschiedliche Meinungen gibt.

Wer oder was im Gegensatz steht zum Beschleunigungs- und Wachstums-Wettlauf in Politik, Wirtschaft, Sport, Freizeit, Unterhaltung, Berichterstattung, praktisch in allen Lebensbereichen, ist OUT, KAPUTT, ÖDE, LANGWEILIG. Warum sollte es im Kino anders sein? Teens und Twens strömen in Filmtheater, wo sie zwanzig oder mehr Minuten lang durch technisch perfekte, gestylte Werbespots auf den zum Spielfilm verlängerten Krimivideoclip vorbereitet werden, Audio im Nacken, Dolby, Tonumneblung, Bildersturm, zuckende Schnitte, blutrote Nahaufnahmen; erfolgreiche Überrumplungsversuche von Karriere- und Anpassungsprofis. Der Einstellungsdurchschnitt pro Spielfilm hat sich gegenüber dem von 1960 beinahe verdoppelt. In allen Formaten und Filmlängen peitschen sie sich voran, Schnitt, Schlag, Schnitthickhack, Heavy Metalmanie, Cut; Computerized, weil man selbst so schnell gar nicht sein kann. Anpassungsorgien, und das alles ausgegeben als Wünsche des – hilflosen – Publikums, weil sonst das Selbstwertgefühl der Macher leidet. Schließlich gibt man vor, genau zu wissen, was man tut. Hochgradiger Branchen-Inzest, gegenseitiges Hochjubeln im Verbund: Werbung, Musiksender, TV-Shows, News Shows, Videoclip, Film.

Systemimmanentes, zwanghaft-neurotisches Verhalten von Medien-Profis, die sich abgesichert glauben durch die Halbwahrheit, Kritik an dieser Art "Fortschritt" liefe ins Leere, weil wissenschaftlich nicht abgesichert. Sie müssen daran glauben, weil sie es sonst nicht aushalten könnten in ihren Schutzhüllen, den Anstalten und Firmenhochhäusern, weil sie sonst kündigen oder – kleineres Übel – sich zum Kotzen finden müssten. Und so machen sie weiter, weil die Konkurrenz auf dem anderen Kanal, im anderen Studio, im anderen Land beim Konzipieren, Produzieren, Terminieren, Kassieren wieder einen Zahn zugelegt hat. Businessreflexe, Berlusconi-Syndrom. Das Resultat ihres Bemühens lassen sie sich durch Demoskopen – je nach Bedarf – bestätigen. Selbstbestätigung auf Bestellung.

Langsamkeit (sprich Ruhe) – manchmal noch in Kinder- und Jugendfilmen, aber dann muss es lustig sein oder märchenhaft. Auch da zieht das Tempo an, und es heißt: Sie sitzen doch alle vor der Glotze, die Kleinen, sind gewohnt an Ton- und Bildsalat! Wie sollen wir sie sonst vom Fernseher weg und in die Kinos bringen? Es stimmt: Sie sitzen vor der Glotze, die Fernbedienung in der Hand, bereit zum erbarmungslosen Druck auf 24 Knöpfe, sobald eine Einstellung länger als 4 Sekunden dauert. Manche bringen es immerhin auf 5 oder gar 6 Sekunden! Spätestens dann muss er her, der nächste Kitzel, die Kurzweilattraktion, damit Denken und Fühlen schlafen können. Erziehung zum inhaltslosen Schnellsehen. Heißt es auch bei Kindern: Wenn sie nach einem harten Berufsalltag und Ärger am Arbeitsplatz müde nach Hause kommen, dann wollen sie nicht mit Problemen konfrontiert werden, sondern sich erholen? Nur merkwürdig: Wenn man es geschafft hat, Kinder ins Kino zu bringen, reagieren sie anders, freier, beweglicher, phantasievoller, geduldiger.

Der Film "Das Jahr der Machete" ist bestimmt kein großer Film, das wissen auch seine Macher. Es ist ein Film zum Hinsehen und Hinhören und das genaue Gegenteil von frischgeiler fetziger Ware, ein Kinofilm und eine Provokation für den TV-Fernbediener – getragen, ruhig, langsam. Und es passiert sooooo wenig! Und traurig ist er auch und dazu problembehaftet! Das kann man den verhätschelten Kleinen doch nicht zumuten, wo die Welt sowieso schon ... gerade jetzt ... Lieb und nett sollen die Filme sein, kindergerecht wie "Pippi Langstrumpf" (nichts gegen "Pippi Langstrumpf"!). Wenn schon Probleme, dann bitte hübsch verpackt und lustig und irgendwie positiv! Wo die Welt sowieso schon ... gerade jetzt ... Schließlich gibt es in unzähligen Expertenrunden und Arbeitsgruppen schwer erarbeitete Rezeptionstheorien!

"Es gibt keine Regeln im Film." (Jean Luc Godard) – "Die Form kann den Inhalt verdecken." (Jerry Mander) – "Die Industrie (Film und TV) selbst hat dem Publikum die Geduld ausgetrieben." (John Schlesinger) – "Das Publikum weiß erst dann, was es sehen will, wenn wir ihm zeigen, was es sehen will." (Samuel Goldwyn Mayer vor einem halben Jahrhundert)

Um Widerspruch wird gebeten!

 

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Filmbesprechungen

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Interviews

Friedrich, Gunter - "... ich werde diesen Film machen, weil er eine antifaschistische Grundposition hat"| Lotz, Karl Heinz - "Hätte ich gewusst, dass es so einen Rummel zu Mozart gibt, hätte ich es wahrscheinlich nicht gemacht"| Meyer, Günter - "Der Zuschauer muss wirklich um seine Helden bangen"| Wheeler, Anne - "Ich denke, die Leute sind es langsam leid, immer Filme wie 'Rambo' zu sehen"|

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