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Ausgabe 47-3/1991

HALTE STILL, STIRB, ERWACHE

ZAMRI, UMRI, WOSKRESNI

Produktion: LENFILM, UdSSR 1990 – Regie und Drehbuch: Witali Kanewski – Kamera: Wladimir Bryljakow – Musik: Sergej Banewitsch – Darsteller: Pawel Nasarow (Valerka), Dinara Drukarowa (Galja), Jelena Popowa (Valerkas Mutter) – Laufzeit: 105 Min. – s/w – OmU – FSK: ab 12 – Verleih: NEF 2 Filmverleih (35mm) – Auszeichnungen: Goldene Kamera Cannes 1990; Europäischer Filmpreis 1990 (Drehbuch)

Im äußersten Osten der Sowjetunion fristen im Jahre 1947 der zwölfjährige Valerka und die gleichaltrige Galja ein ebenso trostloses Leben wie die Erwachsenen. Ob sowjetische Verbannte oder japanische Kriegsgefangene, alle müssen mit den unwirtlichen Lebensbedingungen in dieser kalten, verregneten Gegend fertig werden. Das perspektivlose Dasein im Lager wird bestimmt von Hunger und Verbrechen, Lethargie und Rücksichtslosigkeit. Der aufgeweckte Valerka behauptet sich in diesen unwürdigen Verhältnissen erst durch Aufsässigkeit, dann mit Sabotageakten. So hintertreibt er den stupiden Parademarsch zum Lobpreis des Diktators Stalin, indem er die Schullatrine mit Hefe zum Überlaufen bringt. Als er daraufhin von der Schule gewiesen wird, lässt er eine Lokomotive entgleisen. Seine Mutter kümmert sich kaum um ihn, sie hat mit ihren Liebhabern genug zu tun. Dafür hilft ihm die altkluge Galja immer wieder aus der Patsche. Als der Junge ausreißt und von einer Verbrecherbande in einen Raubmord verwickelt wird, sucht sie ihn und überredet ihn zur Rückkehr. Auf dem Heimweg werden sie von den Banditen, die einen Verrat befürchten, überfallen. Galja kommt dabei ums Leben, während Valerka "nur" verletzt wird. Galjas Mutter verliert aus Schmerz über den Verlust ihres Kindes den Verstand.

In seinem ersten Spielfilm präsentiert Witali Kanewski eine stalinistische Sowjetunion, die in ihren erschreckenden Auswüchsen noch bedrückender wirkt als die Sowjetunion unter Gorbatschow, wie sie Sergej Bodrow kürzlich in "S.E.R. – Freiheit ist ein Paradies" porträtierte. Nicht nur die Situation der Lagerinsassen ist deprimierend, genauso ist auch die Stimmung von Kanewskis Schwarzweiß-Film. Die Geschichte der Außenseiter wird konsequent aus der kindlichen Perspektive erzählt. Mit seinen schonungslosen Bildern verlangt er dem Zuschauer einiges ab, vermittelt jedoch zugleich bittere Einsichten in die Auswirkungen eines totalitären Systems.

Der 1937 geborene Regisseur verarbeitete in dem geradezu dokumentarisch wirkenden Film eigene Erfahrungen. Wie der Protagonist wuchs auch Kanewski im Fernen Osten auf. Im Presseheft des Verleihs berichtet er: "Dieser Film ist die Auferstehung meiner Vergangenheit. Der Regisseur ist jemand, von dem ein Stück mit dem Film stirbt, der sich vollkommen hingibt. (...) Mein Film ist voll von all der Zärtlichkeit und Unverdorbenheit, die ich mir von meiner ersten Liebe und meiner Kindheit bewahrt habe. Meine Biographie spiegelt sehr genau die Geschichte der Sowjetunion wieder: Waisenhaus, Entbehrungen, Gefängnis, Hungersnot. Mein Leben war nicht härter als das Millionen anderer."

Acht Jahre verbrachte Kanewski wegen jugendlicher "Dummheiten" im Gefängnis. Erst 1977 konnte er sein 1960 begonnenes Regie-Studium an der Moskauer Filmhochschule abschließen. Nach weiteren Reglementierungen arbeitete er als Bühnenbeleuchter und Statist. 1987 gab ihm das Leningrader Lenfilm-Studio die Möglichkeit, einen eigenen Film zu machen, nachdem sich der Regisseur Alexej German für ihn einsetzte. Der unter schwierigen materiellen Verhältnissen gedrehte Film, dessen grotesker Titel einen Kinderreim zitiert, lässt den unbedingten Ausdruckswillen Kanewskis deutlich spüren. In einem Interview sagte er: "Es ist, als ob man Ihnen die Wahl lässt, erschossen zu werden oder schneller und weiter zu laufen als die anderen, mit dem Wissen, dass der Sieger verschont wird. Ich wollte schneller und weiter laufen als alle. Ich habe diesen Film mit der lebenswichtigen Dringlichkeit eines zum Tode Verurteilten gemacht." Sein Film wurde 1990 beim Festival in Cannes mit der "Goldenen Kamera" ausgezeichnet und erhielt im gleichen Jahr für das Drehbuch den Europäischen Filmpreis.

"Halte still, stirb, erwache" ist mit aller seiner Tristesse im sowjetischen Kino der Perestroika kein Einzelfall. Kanewskis Film steht sogar paradigmatisch für zwei Haupt-Tendenzen: die Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit und die Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Umbruchsphase. Die Geschichte spielt zwar kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, doch die geschilderte Atmosphäre einer absoluten Apathie trifft allem Anschein nach genauso gut die jetzige Situation. Wer sich vergleichbare Gegenwartsfilme wie "Das astehnische Syndrom", "Morphium – Die Nadel", "Mein Name ist Harlekin" oder "Der zweite Kreis" anschaut, dem bleibt wenig Hoffnung auf eine grundlegende Verbesserung der Verhältnisse, in denen die Sowjetbürger leben müssen.

Reinhard Kleber

 

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Ausgabe 47-3/1991

 

Filmbesprechungen

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Interviews

Friedrich, Gunter - "... ich werde diesen Film machen, weil er eine antifaschistische Grundposition hat"| Lotz, Karl Heinz - "Hätte ich gewusst, dass es so einen Rummel zu Mozart gibt, hätte ich es wahrscheinlich nicht gemacht"| Meyer, Günter - "Der Zuschauer muss wirklich um seine Helden bangen"| Wheeler, Anne - "Ich denke, die Leute sind es langsam leid, immer Filme wie 'Rambo' zu sehen"|

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