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Ausgabe 116-4/2008

BLUTSBRÃœDER

BLOED BROEDERS

Produktion: Rinkel Film & TV Productions BV; Niederlande 2008 – Regie: Arno Diericks – Buch: Jan Bernard Bussemaker, Bert Bouma – Kamera: Renaat Lambeets – Schnitt: Wouter Jansen – Musik: Johan Hoogewijs – Darsteller: Erik van Heijningen, Matthijs van de Sande Bakhuyzen, Sander van Amsterdam, Derk Stenvers, Pierre Bokma u. a. – Länge: 95 Min. – Farbe – Weltvertrieb: www.nonstopsales.com – Altersempfehlung: ab 14 J.

Eine wahre Geschichte, die sich Anfang der 60er-Jahre in Holland zugetragen hat, bildet den Hintergrund für diesen Film. Der 16-jährige Simon stammt aus einer Mittelstandsfamilie. Er liebt die Astronomie und ist dabei, sich im Umfeld von Elternhaus und Schule neu zu orientieren. Sein Banknachbar im Gymnasium ist Arnout van Riebeeck, Sohn aus gutem Hause, dessen Familie in einer exklusiven Villa wohnt. Simon sucht den Anschluss an Arnout und seinen etwas jüngeren Bruder Victor; für ihn ist es eine Chance, den eigenen engen familiären Verhältnissen zu entkommen. Zu diesem kleinen Zirkel, den man nicht als Freundschaftskreis, sondern eher als eine Zweckgemeinschaft bezeichnen kann, gehört auch noch der gleichaltrige Ronnie, ein körperlich kleiner Typ, der dieses Manko durch forsches Auftreten und aggressives Verhalten zu kompensieren sucht.

Es ist ein heißer Sommer. Angeführt von Arnout, der der Langeweile des Alltags durch riskante Herausforderungen entkommen will, vertreiben sich die Jungen die Zeit mit Ladendiebstählen und anderen kleinen kriminellen Aktionen. In der Konstellation dieser Gruppe ist Simon das schwächste Glied, was ihm Ronnie immer wieder zu verstehen gibt. Als Ronnie ein Moped klaut, die Polizei ihm auf die Schliche kommt und er Angst hat vor den Prügeln seines Vaters, verstecken ihn die beiden Brüder auf dem Dachboden ihres geräumigen Anwesens. Parallel dazu hält sich Simon immer öfter bei Arnout und Victor auf. Er genießt die Vorteile eines reichen Lebensstils, passt sich an und darf sogar von Zeit zu Zeit am gemeinsamen Familienessen teilnehmen. Bei dieser Gelegenheit wird ihm bewusst, welcher Klassenunterschied zwischen diesem und seinem Zuhause besteht. Simon glaubt an die freundschaftliche Zuneigung von Arnout und ahnt nicht, dass er für die beiden Brüder nicht mehr als ein interessantes Experiment ist.

Es fällt immer schwerer, Ronnie unbemerkt zu verstecken. Gelegentlich taucht auch Arnouts Freundin Frederique auf. Während sich die Clique im Park die Zeit mit Musikhören und Tennisspielen vertreibt, muss Ronnie vom Dachboden aus zusehen. Dadurch benachteiligt, wird er mitunter so aggressiv, dass es zu Handgreiflichkeiten kommt. Simon fühlt sich währenddessen durch die vermeintliche Freundschaft mit den Brüdern van Riebeeck und die Gastfreundschaft des Hauses aufgewertet. Er meint sich ihnen gegenüber zu Dank verpflichtet und entwickelt auch Ideen, wie das immer störender werdende Verstecken von Ronnie gelöst werden kann. Nach einigen Tagen geht es nur noch darum, den unangenehmen Gast verschwinden zu lassen, denn dieser wird offiziell von der Polizei gesucht und es darf nicht sein, dass so eine Person mit dem Haus der van Riebeecks in Verbindung gebracht wird. Die Zeit wird knapp, da die Familie einen gemeinsamen Urlaub plant. Die Jungen entwickeln einen Plan, Ronnie zu töten und seinen Körper in einer Abfallgrube zu verstecken. Simon bietet sich an, diesen Akt zu übernehmen. Aber die letzten Widerstandskräfte von Ronnie sind so stark, dass er der Schlinge von Simon entkommen kann. Erst dadurch, dass Arnout eingreift und Ronnie mit einer Axt erschlägt, wird die grausame Tat vollendet. Viele Jahre später wird die Leiche von Ronnie beim Ausheben der Grube entdeckt. Es kommt zu einem Verfahren und zu einem Prozess.

"Blutsbrüder" ist ein Film über Jugendgewalt – hier aber nicht vordergründig und spektakulär, sondern subtil aufbereitet und psychologisch motiviert durch die emotionale Kälte von Arnout und Victor, die Simon in Abhängigkeit bringen. Sie sehen in Ronnie nur einen Jungen aus der Unterschicht, der kurzfristig interessant ist und für Abwechslung sorgt. Von der Atmosphäre, der inszenatorischen Sorgfalt und der treffenden Besetzung der Hauptrollen her erinnert der Film an die Milieuzeichnung und die Charaktere des deutschen Films "Was nützt die Liebe in Gedanken", während die eigentliche Geschichte eher den Filmstoffen von Michael Hanecke gleicht. Aber so cool, wie Hanecke in "Bennys Video" und "Funny Games" seine Charaktere seziert und ausstellt, zeichnet Arno Diericks seine Figuren nicht. Das Geschehen wirkt glaubwürdig und aus der Stimmung der 60er-Jahre und dem Klassenbewusstsein einer Herrschaftsfamilie heraus verständlich, ohne dass Diericks die Jungen sympathisch werden lässt. Für Ronnie als Opfer empfindet der Zuschauer kein Mitleid, eher schon für Simon als Täter, der das Opfer des Intrigenspiels zweier Jungen ist, die aus Langeweile heraus handeln und gegenüber den anderen gefühlskalt bleiben. In der Szene, in der Ronnie getötet wird, bleibt die Kamera auf Distanz. So wird klar, dass es hier nicht um die Darstellung von Gewalt, sondern um die Aufbereitung der Ursachen geht – eine Situation, die ausweglos eskaliert und die niemand wollte.

"Blutsbrüder" ist ein Film, der nachhaltig wirkt und Diskussionen auslöst. In Deutschland ist er noch zu entdecken. Zu sehen war er bislang nur auf dem Filmmarkt der diesjährigen Berlinale.

Horst Schäfer

 

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Ausgabe 116-4/2008

 

Inhalt der Print-Ausgabe 116-4/2008|

Filmbesprechungen

EIN AUSSERIRDISCHER SOMMER| BLUTSBRÜDER| DER BRIEF FÜR DEN KÖNIG| DANCE FOR ALL| DIARI| KRABAT| LOVE, PEACE & BEATBOX| MEIN BESTER FREUND| DER MONDBÄR – DAS GROSSE KINOABENTEUER| PHOEBE IM WUNDERLAND| SON OF A LION| SPUK IM EIS| DIE VERTRETUNGSLEHRERIN / ALIEN TEACHER| WAR CHILD|

Interviews

Chrobog, Christian Karim - "Das ist für einen Filmemacher natürlich ein Glücksfall"| Gilmour, Benjamin - "Zur Hölle mit Osama!"| Preuschhof, Sabine - "Wir wollen das Kulturgut Märchen lebendig halten"| Ried, Elke - "Das tapfere Schneiderlein" kehrt zurück| Rosenbaum, Uwe - Mit wenigen Mitteln viel erreicht|

Hintergrundartikel

„Dornröschen“|


KJK-Ausgabe 116/2008

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