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Ausgabe 137-1/2014

"Ganz gewöhnliche Jungen"

Gespräch mit Jegor Klinajew und Semjon Treskunow (beide 14 Jahre alt), Hauptdarsteller im russischen Spielfilm "Pionierehrenwort"

(Interview zum Film PIONIEREHRENWORT / ICH GEBE DIR MEIN WORT)

KJK: Wie seid Ihr zum Film und zur Schauspielerei gekommen?
Semjon: Es war nie mein großer Traum, Schauspieler zu werden. Meine Karriere begann, als ich etwa zehn Jahre alt war, und zwar durch meine Mutter, die damals viele Castings für Werbefilme besucht hatte. Sie ist allerdings keine ausgebildete Schauspielerin. Eines Tages fuhr sie zu solch einer Veranstaltung und musste mich mitnehmen, weil sie mich nicht alleine zu Hause lassen konnte. Bei diesem Casting wurden auch Kinder gesucht und getestet. Ich nahm daran teil; die Rolle habe ich zwar nicht bekommen, aber es hat mir so gefallen, dass ich an weiteren Tests teilnahm, bis ich einen Part in einem Werbefilm erhielt. Danach kamen auch sehr plötzlich Rollen in Kinofilmen. Die Schauspielerei gefiel mir sehr, und ich probte damals oft unterschiedliche Mimiken zu Hause vor dem Spiegel. Zurzeit habe ich in Moskau parallel zwei Projekte zu laufen.
Jegor: Bei mir ging es los, als ich elf Jahre alt war. Meine Mutter interessierte sich auch für Castings. Sie hat einmal meine Daten auf einer Agenturseite eingetragen und daraufhin wurde ich eingeladen. Es war zwar nicht meine erste Bewerbung, aber bei der hatte ich es geschafft. Dabei ging es um die Moderation einer Sendung über den Kosmos beim Kinderkanal "Karussell". Die Sendung läuft bereits seit drei Jahren sehr erfolgreich. Seitdem erhalte ich viele Einladungen zu unterschiedlichen Castings. Im Vergleich zu mir hatte Semjon viel mehr Rollen, und vor kurzem hat er eine in einer sehr großen und wichtigen Produktion bekommen. Aber es liegt auch daran, dass er ein Jahr eher angefangen hat als ich, das heißt, er wird mir immer ein Jahr voraus sein.

Der Film "Pionierehrenwort" lief sehr erfolgreich, erhielt viele Preise und Auszeichnungen. Fühlt Ihr Euch deshalb jetzt als Stars?
Jegor: Ich fühle mich nicht wie ein Star, ganz im Gegenteil! In der Schule werden darüber sogar eher Witze gemacht. Dort gibt es einen Fußballklub und viele Jungs, die auch nichts anderes als Fußball im Kopf haben, machen sich immer über mich lustig mit Sätzen wie: "Der Star kommt!" Somit ist mir dieses Wort eher zuwider. Ein Stern im Himmel ist etwas schönes, aber Menschen als Sterne ...? Freddy Mercury und Elvis Presley werden auch als Stars bezeichnet. Für mich sind es eher Menschen, die sehr erfolgreich sind oder waren, weil sie in dem, was sie tun oder getan haben, besonders gut waren oder sind.
Semjon: "Pionierehrenwort" ist nicht mein erster Spielfilm und auch nicht meine erste Hauptrolle. Fakt ist allerdings, dass ich vorher noch nie einen Preis als Schauspieler bekommen habe; und ich bin auch sonst nicht sonderlich aufgefallen. Der Film lief dann tatsächlich sehr erfolgreich auf vielen namhaften Kinderfilmfestivals in Russland, Weißrussland und der Tschechischen Republik, und wir haben überall ziemlich abgeräumt. Was das "Star-Dasein" angeht, so ist ein Star für mich jemand, der innerhalb seiner Karriere viel für den Film oder das Kino erreicht hat. Irgendwann, wenn ich eine gewisse Bekanntheit in der Filmbranche erreicht habe, hätte ich durchaus auch den Traum, in Hollywood Filme zu drehen. Dann könnte ich mir dieses Gefühl vorstellen, viel für den Film getan zu haben, um mich als Star fühlen zu können. Aber im Moment bin ich noch ein ganz gewöhnlicher Junge, der ab und an irgendwelche Rollen in Kinofilmen übernimmt.

Wirst Du manchmal auf der Straße in Moskau erkannt? Schließlich hast Du bereits in mehr als 25 Filmen mitgespielt?!
Semjon: Auf der Straße werde ich oft erkannt. Aber was tatsächlich für mich erstaunlich ist, dass ich in den vier Tagen in Deutschland mehr Autogramme gegeben habe, als jemals zuvor in Russland. Ich bin zum ersten Mal in Deutschland, und andere Kinder kommen auf mich zu und bitten um eine Unterschrift. Was mich in Russland oft sehr ärgert ist, dass ich hauptsächlich durch meine "Sitcom"-Rollen erkannt werde, vor allem durch die Serie "Swetofor" (Die Ampel), die von einem großen russischen Sender produziert und von vielen gesehen wurde. Andere Rollen, die ich persönlich mehr schätze, erreichen keine große Resonanz. Sie laufen ausschließlich auf Festivals und kommen nicht ins Kino, so dass sie nur von wenigen gesehen werden. Zurzeit bin ich bei einer Verfilmung von Maxim Gorkis "Nachtasyl" dabei. Das wird ein reiner Festivalfilm und ich glaube nicht, dass er in den großen Verleih kommt.

Wie habt Ihr Euch auf die im Film dargestellte Zeit vorbereitet? Durch Internet, Bücher, Gespräche mit den Eltern? Habt Ihr die Buchvorlage zum Film gelesen?
Semjon: Ich habe das Buch von Michail Seslawinski gelesen. Es stellt für mich eine reine Chronik dieser Zeit dar, ohne dramaturgische Elemente. Es gibt keine Intrigen und kaum Verbindungsmotive zwischen den Charakteren. Wer die Pioniere waren, wusste ich aus Erzählungen meines Vaters. Um ganz ehrlich zu sein, ich hatte mich vorher nie sonderlich auf meine Rollen vorbereitet. Das war eine der ersten, bei der ich begonnen habe, mir Gedanken über die Figur zu machen. Dazu kam es durch die Zusammenarbeit mit dem Regisseur Alexander Karpilowski. Wir haben gemeinsam die Figur erarbeitet einschließlich der Beziehung zu dem Mädchen, zu den Eltern und des Konflikts zwischen Dimka und Mischka. Alles, was Schauspieler während ihres Studiums lernen, lernten wir innerhalb von fünf Tagen. Das war für mich eine sehr ernste Rolle, bei der ich zum ersten Mal die Emotion der Trauer in Verbindung mit Tränen auszudrücken gelernt habe.
Jegor: Da es meine erste Rolle in einem Film war, war sie für mich tatsächlich schwierig. Mit meiner Moderationstätigkeit im Fernsehen ist es nicht vergleichbar. Das war wie ein Sprung ins kalte Wasser: eine Hauptrolle mit viel Text und einer komplexen Figur. Ich hatte allerdings Glück, weil ich gewissermaßen mich selbst spielen konnte. Der Charakter war wie im richtigen Leben. Wenn man sich selbst spielt, so ist es sehr "natürlich", d. h., wie man im realen Leben agiert und auf bestimmte Situationen reagiert, so agiert man auch in der Rolle. Außerdem sprach ich mit meiner Mutter darüber, wer die Pioniere waren und wie sie lebten. Meine Mutter war zu ihrer Zeit eine sehr aktive Pionierin. Sie war gut in der Schule und spielte ein Instrument. Meine Rolle im Film war jedoch eher die eines verantwortungslosen Dämlacks, eines "Schlingels". Meine Mutter erzählte mir, wie solche Kinder damals ausgesehen haben und wodurch sie aufgefallen sind – wie sie ihre Tasche trugen, was sie anhatten und wie sie sich verhielten. Auch der Regisseur selbst berichtete uns von der Zeit und mischte sich mit seinen Erfahrungen z. B. im Kostümbild ein. Darum denke ich, dass unser Film sehr präzise ist, da sich der Regisseur mit der Zeit gut auskannte.

Habt Ihr Euch auch gefühlt wie Pioniere bzw. konntet Ihr Euch vorstellen, wie sich Pioniere damals gefühlt haben?

Semjon: Ich habe mich wie ein Pionier gefühlt, weil ich einen Pionier gespielt habe. Allerdings bin ich eher der Meinung, dass man in einer Rolle den Charakter eines Menschen darstellt und nicht das, was er ist – sei es sein Beruf oder sein Stand.
Jegor: Ich habe versucht, mich in die Zeit und in die Pioniere einzufühlen. Ich empfand mich dabei selbst wie unter einer Kuppel: Außen war das Jahr 2012 und innen 1977. Aber wie Semjon schon sagte, letztlich spielt man einen menschlichen Charakter, ich selbst jedoch könnte mich in der Zeit nicht vorstellen.
Semjon: Ein Wettbewerb, bei dem es darum geht, mehr Altpapier zu sammeln als andere, klingt für mich aus der heutigen Sicht irgendwie absurd. Ich verstehe den Teil der Geschichte, in dem Kinder aus der Provinz eine Fahrt nach Moskau als aufregend empfinden, oder den Wettbewerbsgedanken zwischen den Schulklassen. Ich weiß auch, was der Kommunismus ist. Ich habe viele Bücher dazu gelesen, mein Vater hat mir viel davon erzählt und meine Großmutter war Kommunistin. Die Kinder damals wurden dazu erzogen, Kommunisten zu sein: einander zu helfen, sich gegenseitig zu unterstützen und nicht miteinander zu konkurrieren. Zum Vergleich: Die heutigen Schüler leben freier, und die Pioniere damals waren eingezwängt innerhalb der eigenen Regeln. Ich persönlich könnte so nicht leben.

Zum Thema Altpapier: Gibt es in Russland Mülltrennung?

Jegor: Nein, wir schmeißen alles auf einen Haufen.
Semjon: Ich lerne in der Schule Deutsch, und im Unterricht sprechen wir auch über die Mentalität der Deutschen und ihre Eigenheiten. Ich habe davon gehört, dass in Deutschland der Müll getrennt wird. Hier sind auch die Straßen viel sauberer als bei uns. Ich sehe außer Zigarettenstummeln keinen weiteren Müll auf der Straße. Bei uns fliegen außerdem noch Bonbonpapier, leere Flaschen usw. überall herum.

Es wird am Ende des Films von dem "großen, schönen und glücklichen Land" gesprochen, das es heute nicht mehr gibt. Hättet Ihr in diesem Land leben wollen, in der Vergangenheit?
Semjon: Ich denke, dieser Schlusssatz drückt die Nostalgie der Erwachsenen aus. Für sie war es vielleicht eine bessere Zeit. Aber, mal gesponnen, wenn die jetzt die Wahl hätten, ich glaube nicht, dass sie sich für diese vergangene Zeit entscheiden würden. Ich meine, es war insofern eine bessere Zeit, weil die Freundschaften enger waren, die Straßen weniger gefährlich als heute. Um ehrlich zu sein: Ich habe mich bereits zu sehr an die modernen Technologien gewöhnt und an die heutige Lebensweise. Ich könnte vielleicht eine Weile dort leben, aber nicht zu lange. Oder würde ich mich an die damalige Zeit gewöhnen?! Ich könnte es jetzt nicht mit Gewissheit sagen! Wenn ich in jene Zeit reisen könnte, würde ich mir gerne das Leben meiner Eltern anschauen. Mein Vater hat mir sehr viele amüsante Geschichten erzählt. Ich könnte mir vorstellen, etwa zwei Wochen an deren Leben teilzuhaben, den ganzen Spaß mitzumachen, um dann wieder zurückzukehren.
Jegor: Ich weiß, dass ich in jener Zeit nicht leben könnte. Da ich mich viel mit Musik beschäftige, könnte ich nicht mehr ohne MacBook oder meine Musikprogramme leben. Ich beschäftige mich viel mit elektronischer Musik und die heutigen Medien und Technologien würden mir sehr fehlen.

Denkt Ihr, es war bloß so eine amüsante Zeit? Habt Ihr keine Geschichten darüber gehört, dass vielleicht nicht immer alles einfach war?

Semjon: Es gibt natürlich bei allem Positives und Negatives. Ich weiß zum Beispiel, dass es einen großen Mangel an Waren gegeben hat. Mein Vater erzählte mir, dass er nur zwei Hosen hatte: Eine als Ausgehhose und für zu Hause, die andere trug er nur zu besonderen Anlässen. Man legte damals viel mehr Wert auf praktische Sachen als auf Mode. Er hat mir außerdem erzählt, wie sie Altpapier auf Müllhalden geklaut haben und dabei riskierten, vom Wächter erschossen zu werden. Oder dass es sehr schwierig war, Mädchen kennenzulernen und ihnen zu gefallen, weil man nicht die richtige Kleidung getragen hat. Manche lebten gut, manche schlecht. Für uns läuft heute auch nicht immer alles gut: Die Kriminalität auf Moskauer Straßen ist extrem groß, dafür verfügen wir über sehr hoch entwickelte Technologien, die es uns ermöglichen, mit Menschen auf der ganzen Welt zu jedem Zeitpunkt zu kommunizieren.

Das Gespräch mit Jegor Klinajew und Semjon Treskunow führten Swetlana Epp und Volker Petzold

 

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Ausgabe 137-1/2014

 

Inhalt der Print-Ausgabe 137-1/2014|

Filmbesprechungen

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Interviews

- Interviews mit den Filmförderern der Bundesländer zum Kinderfilm, Teil 3| Graf Rothkirch, Thilo - "Das Marketing für deutsche Animationsfilme müsste stark gefördert werden"| Klinajew, Jegor und Semjon Treskunow - "Ganz gewöhnliche Jungen"| Peters, Maria - "Diese Geschichte hat viel mit meinen eigenen Erfahrungen als Kind zu tun"| Sieben, Thomas - "Der Film ist ein Experiment"| Tabak, Hüseyin - "Man muss eine menschliche Lösung finden"|

Hintergrundartikel

Märchenfilme in ARD und ZDF zu Weihnachten 2013| „Ehrenschlingel“ für Thilo Graf Rothkirch|


KJK-Ausgabe 137/2014

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