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Ausgabe 137-1/2014

"Man muss eine menschliche Lösung finden"

Gespräch mit Hüseyin Tabak zum Film "Deine Schönheit ist nichts wert"

(Interview zum Film DEINE SCHÖNHEIT IST NICHTS WERT)

KJK: Du gehörst zur dritten Generation türkischstämmiger Filmemacher in Deutschland. Wie bist du zum Film gekommen?
Hüseyin Tabak: Ich war filminteressiert. Ich komme aus der Kleinstadt Bad Salzuflen und bin dann nach Hamburg gezogen. Zum einen hatte ich Verwandte dort, zum anderen dachte ich mir, wenn es Fatih Akin dort geschafft hat, schaffe ich es auch. Ich habe dann dreieinhalb Jahre an etwa 20 Filmen mitgearbeitet, mich vom Setpraktikanten zum Setassistenten und vom Regiepraktikanten zum Regieassistenten hochgearbeitet. In dieser Zeit habe ich auch noch etwa 14 Kurzfilme gedreht und mich an verschiedenen Filmschulen beworben, in Potsdam, Berlin, Ludwigsburg, Köln und Hamburg. Leider hat das nie geklappt. Dann hat mir Stefan Wagner aus Berlin, bei dem ich als Regieassistent arbeitete, den Tipp gegeben, mich doch einmal in Wien zu bewerben. Als ich in der letzten Runde in Ludwigsburg wieder nicht genommen wurde, habe ich es in Wien probiert – und es hat geklappt. Damals wusste ich noch nicht, dass Michael Haneke dort lehrt und kannte auch seine Filme nicht. Der Filmakademie in Wien habe ich viel zu verdanken, ich habe dort sehr viel gelernt.

Was hast du von Michael Haneke, der gezeigt hat, dass er auch gut mit Kindern arbeiten kann, persönlich mitgenommen?

Er hat mir beigebracht, dass Regisseure richtig arbeiten müssen. Du musst vor dem Dreh dein Team so gut vorbereiten, dass du dich am Set nur um die Schauspieler kümmern kannst. Du musst genau wissen, was du willst. Es gibt Regisseure, die es anders machen, aber ich habe es so von ihm gelernt. Die Kreativität kommt beim Schreiben, aber danach wird gearbeitet. Es dürfen beim Dreh nicht zu viele Fragen offen sein. Das Zweite, was ich von ihm gelernt habe, ist, seine Schauspieler zu lieben. Es sind Menschen, die ihre Emotionen über die Leinwand transportieren. Wenn du als Regisseur deine Schauspieler liebst, merken das auch die Zuschauer, wenn du nur die Charaktere liebst, merken die Zuschauer das ebenfalls. Haneke mag meinen Film, auch wenn er eine andere Sichtweise auf das Medium Film hat und ihn so nicht drehen könnte. Er mag es nicht, wenn man ihn nur kopiert und er will, dass jeder seinen eigenen Weg geht. Eines möchte ich noch betonen: Haneke ist nicht nur mit seinem Namen an der Schule, sondern er ist wirklich vor Ort und macht Unterricht.

Trotzdem hast du "Deine Schönheit ist nichts wert" nicht Haneke, sondern Charlie Chaplin und Yilmaz Güney gewidmet. Wieso?
Ich brauche Vorbilder und ich brauche Menschen, an denen ich mich festhalten kann. Es gibt private Vorbilder wie meine Mutter oder meinen Vater. Ich habe meine Mutter mal 48 Stunden arbeiten gesehen, ohne zu schlafen. So etwas vergisst man nicht, gerade dann, wenn man selbst einmal viel arbeiten muss. Meine beruflichen Vorbilder sind Yilmaz Güney und Charlie Chaplin. Als ich angefangen habe, mich für Film zu interessieren, bin ich ganz schnell auf Chaplin gestoßen, denn ich habe gesehen, was für ein 'Wahnsinniger' er beim Filmemachen war, wie viel Energie er reinsteckte. Ich habe dann auch seine Biografie gelesen. Er hat es geschafft, der ganzen Welt etwas zu vermitteln, ohne ein Wort zu sagen. Dann kamen die Filme mit Ton. "Der große Diktator" ist für mich der Geniestreich in der Filmgeschichte überhaupt. Dann habe ich geschaut, wer ist in meiner eigenen Kultur und bin ganz schnell auf Güney gekommen. Ich fand an ihm besonders spannend, dass er immer Filme für das Volk gemacht hat. Er hat einmal gesagt, "Kunst ist nicht für die Kunst, sondern Kunst ist für die Menschen, für das Volk". Das möchte ich auch mit meinen Filmen erreichen.

Wenn man bei Haneke an der Filmakademie Wien studiert hat, liegt es nicht auf der Hand, gleich zwei Filme mit Kindern zu drehen, oder?
Es war eher Zufall, dass beide Filme so kurz hintereinander entstanden sind, wobei "Deine Schönheit ist nichts wert" noch vor dem Film "Das Pferd auf dem Balkon" kam. Ich habe schon beim ersten Film gelernt, mit Kindern zu arbeiten, sie ernst zu nehmen und ihre Meinung zu respektieren. Natürlich kann man das nicht mit jedem Kind. Dafür sind die Castings da, da sehe ich, ob sie nicht nur gerne spielen, sondern auch mich und die Geschichte verstehen können. Das ist mir besonders wichtig.

Wie hast du die beiden Hauptdarsteller für "Deine Schönheit ist nichts wert" gefunden?
Da muss ich erst die Vorgeschichte erzählen. 2009 habe ich in der Türkei einen Musikclip gedreht, in dem ein zwölfjähriger Junge mitspielte. Der hat immer von Deutschland geträumt und in der Schule angegeben, dass er bald dorthin fahren werde. Er dachte, er würde dann Geld haben, Internet, ein iPhone und deutsche Mädels. Ich habe mir gedacht, was passiert wirklich mit so einem Jungen, der einesteils ein kleiner Macho ist, aber auch sehr zerbrechlich, wenn er nach Deutschland kommt, die Sprache nicht kann und auch die Familienprobleme mitnimmt. Wir haben dann aber kein Visum für diesen Jungen bekommen. Zum Glück war mein 2011 entstandener Dokumentarfilm "Kick off" an den Schulen bekannt, an denen wir gecastet haben, das waren etwa 800 Kinder in über 30 Schulen. Natürlich fanden wir viel mehr kurdisch-türkische Jungen als Mädchen mit jugoslawischer Abstammung. So haben wir den Abdulkadir gefunden. Er sollte zur Probe den Text lernen, hatte aber sein Passwort für die Mailbox vergessen. Daraufhin hat er den Castingleiter binnen einer Stunde 46 Mal angerufen, war total verzweifelt und meinte, er müsse diese Rolle unbedingt haben. Als ich ihn nach dem Warum fragte, gab er die beste Antwort, die ein Schauspieler geben kann: "Ich weiß nicht, ich fühl es einfach!" Am Ende kam heraus, dass er vieles aus dem Film selbst schon erlebt hat, er wurde schon drei Mal fast abgeschoben und wurde es dank seiner guten Noten dann doch nicht.

Und was war mit dem Mädchen?
Milica ist Bosnierin und es war ihr erster Film. Es war schwieriger, sie zu finden. Sie musste natürlich hübsch sein, aber nicht aufgedonnert hübsch, sondern musste eine natürliche Schönheit haben. Ich habe bei der Suche immer die Szene in der Straßenbahn gecastet, wo die beiden Kinder zusammensitzen. Da spielt sie zuerst eine, die total traurig ist, denn sie weiß, dass sie bald abgeschoben wird, und dann kommt dieses Lächeln. Am Anfang war sie nicht so gut, aber nach jeder Castingrunde wurde sie besser. Für mich ist es wichtiger, dass Kinder an sich arbeiten können, als wenn sie von Anfang an alles gut machen.

Hast du vor dem Drehen lange mit ihnen geprobt?

Also ich habe bei Abdulkadir etwas gemacht, was völlig ungewöhnlich ist. Er hat vor dem Dreh ein paar Wochen bei mir gewohnt und wir haben in dieser Zeit eine Art Bruderbeziehung entwickelt. Ich wollte, dass er nicht nur Respekt vor mir hat, sondern mir auch vertraut, denn wir haben zwar vor den Szenen viel geprobt, aber wir konnten sie beim Drehen nicht oft wiederholen und ich wollte, dass er dann auf mich hört. Für den Film war es also sehr wichtig, dass ich eine enge Beziehung zu ihm aufbauen konnte und jetzt immer noch habe. Wir hatten für den gesamten Film nur 21 Drehtage, das ist für diese Länge sehr wenig, zumal bis auf wenige Ausnahmen alle noch keine Profis waren, sondern Studenten.

Möchtest du weiterhin mit Kindern drehen?
Wenn ich eine Geschichte habe, dann schreibe ich sie nieder und denke nicht bewusst daran, ob sie speziell für Kinder sein könnte. Aber Kinderfilme möchte ich auf jeden Fall gerne weiter machen.

Weder das Asperger-Syndrom bei "Das Pferd auf dem Balkon" noch das Thema Migration sind klassische Kinderfilmthemen. Warum sind deiner Meinung nach solche Themen für ein junges Publikum dennoch wichtig?
Es fällt mir schwer, die Antwort darauf zu sagen, weil es die Wahrheit ist: Ich finde, dass Kinder heute durch die Neuen Medien eine Vielzahl von Sichtweisen haben. Und weil es so viele sind, schränken sie ihre eigene Sichtweise ein. Die meisten Kinder bleiben in ihrem (Massen-)Spektrum stehen und verlieren langsam das Interesse an Nebenthemen. Es gibt so viel zu sehen und zu entdecken, etwa im Internet, dass es den Kindern irgendwann zu viel wird und sie sich dann auf einige wenige Sachen beschränken. Ich und einige Kollegen möchten aber wenigstens auf solche anderen Themen aufmerksam machen. Ich sehe es als meine Pflicht als Filmemacher, neue Geschichten zu erzählen. Es ist sehr schwierig für uns mit solchen Filmen, aber man darf den Kampf, und es ist wirklich ein Überlebenskampf an den Kinokassen und im Fernsehen bei den Einschaltquoten, nicht einfach aufgeben.

Die Migrationsproblematik stellt sich europaweit. Gibt es hier Unterschiede zwischen Österreich, wo der Film gedreht wurde, und Deutschland, wo du aufgewachsen bist?
Es gibt auf jeden Fall Unterschiede in der Gesellschaft. Wenn ich mich in Österreich auf der Straße bewege, habe ich oft das Gefühl, dass ich nicht dazugehöre. Dieses Gefühl habe ich in Deutschland fast nie gehabt. Vielleicht liegt das auch nur an meiner Wahrnehmung, denn ich habe Freunde mit Migrationshintergrund in Deutschland, die genau darüber klagen. Ich fühle mich in Deutschland zuhause, fühle mich hier wohl und möchte auch hier begraben werden, nicht in der Türkei, denn ich gehöre zu diesem Land. In Österreich ist das Thema Migranten in der Öffentlichkeit sehr präsent und das sieht man auch an den Wahlergebnissen. Viele Menschen, mit denen ich darüber geredet habe, sagen mir, das liege daran, dass Österreich sich nach dem Krieg die Opferrolle genommen hat und die Entnazifizierung kaum erfolgte. Die Abschiebungspraxis allerdings ist gleich. Man wartet, bis in einem Flugzeug genug Plätze vergeben sind, dann erst erfolgt die Abschiebung. Wann das genau der Fall ist, weiß man nicht.

Ein anderes Thema deines Films ist der kurdisch-türkische Konflikt, der in den Köpfen der Menschen und in den Familien noch sehr präsent scheint.

Der Film zeigt, dass ein Krieg mehr die Familien zerstört als irgendwelche Regierungen oder Nationen. Er hinterlässt viel mehr Spuren in der Familie. Wir haben in der Türkei jetzt Waffenstillstand, aber die Probleme in den Familien bestehen unverändert weiter. Der Vater war weg, hat das Aufwachsen der Kinder nicht selbst miterlebt und dann rebelliert ein Sohn, das passiert häufig. In zehn Jahren können Türken und Kurden zusammen auf der Straße tanzen, aber die Konflikte in den Familien existieren immer noch und mit ihnen die Schmerzen, die der Krieg hervorgerufen hat. Ich beziehe in meinem Film absichtlich keine Stellung, sondern zeige, dass der Vater und der ältere Sohn eine schöne Entwicklung durchmachen. Das habe ich von Chaplin gelernt, dass das Humanistische zum Zug kommt. Der Sohn fängt an, den Geruch des Vaters zu vermissen, und der Vater singt wieder die Lieder, die er vor dem Krieg sang, das ist meine Antwort auf den Krieg.

Warum hast du gerade in Bezug auf Veysel ein offenes Ende für den Film gewählt?

Es kann natürlich als offenes Ende gesehen werden, aber ich finde, das Ende transportiert ein bestimmtes Gefühl, das der Hoffnung. Wenn man nach einem Film mit einem solchen Gefühl herauskommt, dann ist der Film für mich geschlossen. Man muss nicht alles erzählen, aber die Zuschauer sollen das Gefühl haben, dass der Junge die Chance hat, es zu schaffen.

Mit Hüseyin Tabak sprach Holger Twele

 

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Inhalt der Print-Ausgabe 137-1/2014|

Filmbesprechungen

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Interviews

- Interviews mit den Filmförderern der Bundesländer zum Kinderfilm, Teil 3| Graf Rothkirch, Thilo - "Das Marketing für deutsche Animationsfilme müsste stark gefördert werden"| Klinajew, Jegor und Semjon Treskunow - "Ganz gewöhnliche Jungen"| Peters, Maria - "Diese Geschichte hat viel mit meinen eigenen Erfahrungen als Kind zu tun"| Sieben, Thomas - "Der Film ist ein Experiment"| Tabak, Hüseyin - "Man muss eine menschliche Lösung finden"|

Hintergrundartikel

Märchenfilme in ARD und ZDF zu Weihnachten 2013| „Ehrenschlingel“ für Thilo Graf Rothkirch|


KJK-Ausgabe 137/2014

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