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Ausgabe 138-2/2014

LAUF JUNGE LAUF

Bild: LAUF JUNGE LAUF
© NFP

Produktion: bittersuess pictures GmbH, in Koproduktion mit Ciné-Sud Promotion / A Company Filmproduktion / Quinte Film / BR / Arte / Arte France Cinéma / ARD Degeto / HR / MDR / RBB; Deutschland / Frankreich / Polen 2013 – Regie: Pepe Danquart – Drehbuch: Heinrich Hadding, nach dem Roman von Uri Olev und der Lebensgeschichte von Yoram Fridman, unter Mitarbeit von Pepe Danquart – Kamera: Daniel Gottschalk – Schnitt: Richard Marizy – Musik: Stéphane Moucha – Darsteller: Andrzej und Kamil Tkacz (Srulik/Jurek), Elisabeth Duda (Magda Janczyk), Itay Tiran (Mosche), Zbigniew Zamachowski (Hersch Fridman), Jeanette Hain (Frau Herman), Lukasz Gajdzis (Pawel), Rainer Bock (SS-Offizier) u. a. – Länge: 107 Min. – Farbe – FSK: ab 6 – FBW: besonders wertvoll – Verleih: NFP – Altersempfehlung: ab 12 J.

Es ist Sommer 1942 in Polen. Dem knapp neunjährigen jüdischen Jungen Srulik gelingt es als einzigem seiner Familie, aus dem Warschauer Ghetto zu fliehen. Später schafft es wohl auch sein Vater noch, dem Srulik nach Monaten der Entbehrung und des Überlebenskampfes in den Wäldern rund um Warschau ein letztes Mal begegnet, auf seiner Flucht vor deutschen Soldaten. In diesem Moment, kurz bevor sich der Vater opfern wird, um dem Sohn das Überleben zu ermöglichen, schärft er Srulik ein, dieser müsse überleben und dürfe niemals aufgeben. Selbst wenn er mit der Zeit seine Familie und seinen Namen vergessen sollte, dürfe er aber niemals in seinem Leben vergessen, ein Jude zu sein. Der äußerst begabte und pfiffige Junge nimmt sich das zu Herzen, wächst in den kommenden Jahren über sich selbst hinaus und leistet dabei nahezu Übermenschliches. Und doch hätte er die drei Jahre in einem vom Krieg gezeichneten und von den Deutschen besetzten Land als Jude niemals überlebt, wenn ihm nicht viele Menschen selbstlos und unter Einsatz ihres eigenen Lebens geholfen hätten.

Bei der Bäuerin Magda, deren Söhne auf Seiten der Partisanen kämpfen, findet er mitten im strengen Winter für ein paar Monate Unterschlupf. Sie gibt ihm eine andere Identität und übt seine neue Rolle so lange mit ihm ein, bis sie authentisch und spontan wirkt. Auf diese Weise wird er zu dem katholischen Waisenkind Jurek, dessen Eltern bei einem Bombenangriff ums Leben kamen. Ausgestattet mit Rosenkranz und Kreuzkette, bekommt er immer wieder Hilfe von katholischen Bauern, die ihn als Arbeitskraft benötigen und ihm etwas zu essen geben. Von einigen wird er jedoch auch gejagt und für Geld an die Deutschen verraten. Einmal entkommt er nur mit einem Trick, kurz bevor die Deutschen ihn erschießen wollten. Bei einem Arbeitsunfall auf einem Gutshof verliert er seinen rechten Arm, nachdem sich der behandelnde Arzt geweigert hatte, einen Juden zu operieren. Mit viel Glück und Verstand meistert Jurek aber selbst diese Herausforderung. Später kann er im Osten, wo die Rote Armee bereits einmarschiert ist, für einige Monate sogar ein halbwegs glückliches Leben bei einer Familie führen, die ihn aufgenommen hat. In dem Mädchen Alina findet er eine liebevolle Wahlschwester. Diese Familienidylle endet jäh, als nach Kriegsende ein junger Mann aus dem Waisenhaus von Warschau auftaucht. Er erinnert Jurek zunächst ungeschickt, aber dann doch einfühlsam und verständig daran, dass er eigentlich ein Jude sei und als solcher von seinem Volk auch gebraucht werde.

Die abenteuerliche und wechselvolle Geschichte von Jurek ist so erstaunlich, dass man fast nicht glauben mag, sie hätte sich wirklich zugetragen. Und dennoch ist es die wahre Geschichte von Yoram Fridman, der am Ende des Films selbst zu sehen ist. Als inzwischen 80-Jähriger in Israel, wohin er 1962 auswanderte, präsentiert er stolz seine Familie und seine Enkel. Der israelische Schriftsteller Uri Orlev – selbst ein Holocaust-Überlebender – hatte aus Fridmans Erinnerungen einen Tatsachenroman verfasst, der in viele Sprachen übersetzt und auch in Deutschland zu einem Bestseller wurde. Pepe Danquart verfilmte diesen Roman wie einen "Abenteuerroman" in eindringlichen, trotz aller Schrecken nicht deprimierenden, sondern immer hell gestalteten, Zuversicht ausstrahlenden Bildern. Er vermittelt das Geschehen ganz aus der Perspektive des von seiner Umwelt bedrohten und innerlich zwischen zwei Identitäten zerrissenen Jungen. Obwohl dank gut gesetzter Schnitte und Großaufnahmen längst nicht alles im Bild zu sehen ist, was dem Jungen widerfährt und was er erlebt, wirken einige Szenen doch bedrohlich und intensiv, vor allem die gegen Ende hin als Rückblende gestaltete mit seinem Vater. Der Filmbesuch ist jüngeren Kinogängern daher am besten in Begleitung von Erwachsenen zu empfehlen, vor allem, wenn sie erstmals mit dieser Thematik konfrontiert werden. Emotional möglicherweise belastende Momente finden sich übrigens nicht nur in den wenigen Szenen aus dem Warschauer Ghetto oder im brutalen Verhalten der deutschen Wehrmachtsoldaten und eines ambivalent agierenden SS-Offiziers. Auch die Hausschlachtung eines Schweines oder der Tod eines Hundes, der vorübergehend Jureks Freund und Begleiter ist, müssen von sensibleren Kindern verarbeitet werden. Dennoch ist der dramaturgische Spannungsbogen des Films bewusst so gestaltet, dass sich solche Szenen immer gleich mit hoffnungsvollen und aufmunternden abwechseln.

Neben bekannten deutschen und polnischen Darstellern, darunter Jeanette Hain als fürsorgliche Gutsherrin und Miroslav Baka – der in Filmen von Kieslowski oder Michael Klier in Deutschland bekannt wurde – stechen die Zwillinge Andrzej und Kamil Tkacz besonders hervor. Sie verkörpern abwechselnd und ohne dass dies im Film genau zu unterscheiden wäre, die Hauptfigur des Films, die mit einer unbändigen Kraft mutig und erfolgreich um das eigene Überleben kämpft. Eine besondere Qualität des Films liegt auch darin, dass er die verschiedenen Charaktere nicht als bloßes Klischee, sondern als Menschen zeigt und in Erinnerung ruft, dass damals offenbar eine ganze Reihe von einfachen polnischen Bauern ihrem katholischen Glauben auch Taten folgen ließen und unter Lebensgefahr Juden zu retten versuchten.

Holger Twele

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 138-2/2014 - Interview - "Riesengroße Verantwortung"

 

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