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Ausgabe 138-2/2014

VIOLET

Bild: VIOLET
© Minds Meet / Berlinale Generation

Produktion: Minds Meet, Brüssel, in Koproduktion mit Artémis Productions, Brüssel / Phanta Film, Amsterdam; Belgien / Niederlande 2013 – Regie und Buch: Bas Devos – Kamera: Nicolas Karakatsanis – Schnitt: Dieter Diependaele – Darsteller: César De Sutter (Jesse), Raf Walschaerts (Walter), Mira Helmer (Marie), Koen De Sutter (Thomas), Jeroen Vander Ven (Lars), Fania Sorel (Eva), Brent Minne (Dries)u. a. – Länge: 82 Min. – Farbe – Weltvertrieb: New Europe Film Sales,  E-Mail: jan@neweuropefilmsales.com – Uraufführung: Generation 14plus /Internationale Filmfestspiele Berlin 2014

Schon der Beginn ist irritierend: In einer Einkaufspassage geschieht ein Verbrechen, auf mehreren Monitoren der Videoüberwachung ist das Geschehen zu sehen beziehungsweise auch nicht zu sehen, weil immer nur Ausschnitte aus verschiedenen Perspektiven sichtbar sind, die sich dann zum Teil nur in den Köpfen der Zuschauer zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Diese Sequenz verdeutlicht bereits, was den gesamten Film auszeichnet: Er will die Betrachter sensibilisieren, Bedeutungen in den Bildern zu entdecken, die vordergründig nicht zu erkennen sind. Als der Film direkt an den Tatort wechselt, liegt Jesses niedergestochener Freund Jonas am Boden. Jesse hat hilflos mit angesehen, wie sein bester Freund ermordet wurde, er wird diese ungeheuerliche Tat und die maßlose Brutalität nicht vergessen können. Längst ist man gewöhnt daran, Verbrechen fast nur in den stummen Bildern der Überwachungskameras wahrzunehmen, sie dokumentieren die Gewalt, werden in den Medien immer wieder gezeigt und dienen so der Ermittlung der Täter. Vor allem schaffen sie aber eine Distanz zur Realität, die Gewalt scheint fast nur noch in einer virtuellen Welt zu existieren. Für die "realistische" Darstellung der Gewalt dienen dann eher die TV-Krimis oder Kinothriller.

In einem konventionellen Krimi würden Polizei und Spurensicherung aktiv werden, Zeugen würden vernommen werden, die Bilder der Überwachungskamera würden ausgewertet werden und die Suche nach den Tätern würde beginnen. All das passiert hier auch, aber der Film zeigt es so gut wie nicht: Kurz sind Polizisten am Tatort zu sehen, später werden die Täter in Handschellen abgeführt, aber das sind nur kurze Einsprengsel. Das Hauptthema des Films ist Jesses Wut und Trauer, fast ausschließlich folgt der Film der Hauptfigur und entwirft ein kraftvolles und emotionales Porträt dieses überforderten Jungen, der seine Trauer nicht in Worte fassen kann. Und der mit seiner Trauer auch allein gelassen wird, die Menschen um ihn herum zeigen zwar Verständnis, doch sie gehen schnell wieder zur Tagesordnung über. Und seine BMX-Freunde exerzieren lieber ihre Sprünge, und wenn sie doch einmal mit Jesse über die Tat reden, dann wollen sie mehr über die Täter erfahren und fragen ihn vorwurfsvoll, ob er nicht eingreifen konnte. Auch bei der Darstellung der Trauer sucht der Film nach Bildern und Tönen, die wir nicht kennen und wendet sich gegen die Konventionen: In anderen Filmen gäbe es gefühlvolle Streicherklänge als Signal, dass es jetzt traurig zugeht, ein gängiges Übereinkommen zwischen Filmemachern und Zuschauern, bei dem die Beteiligten wissen, welche Reaktionen jetzt abgefordert werden. Genau das verwehrt Bas Devos in seinem durch und durch sinnlichen Langfilm-Debüt, bei dem die Trauer still ist, der Geräusche-Soundtrack verzichtet auf Musik und zwingt zu einer anderen Wahrnehmung: Trost über den Verlust eines Menschen ist nur schwer zu finden.

Durch die Beobachtung der Hauptfigur werden Dinge sichtbar, die unmöglich in Worte zu fassen sind, Tod und Trauer werden lieber verdrängt. Es ist überhaupt ein Film über Beobachtungen: von der Videoüberwachung am Anfang bis zu Jesses voyeuristischem Blick aus der Dunkelheit des Gartens zu den Eltern von Jonas. Aber auch die Verbreitung eines Tatort-Fotos über das Internet: Ein Wachmann hatte es geschossen und später veröffentlicht. Und ein kleiner Junge, der es auf seinem Handy gespeichert hat, will von Jesse wissen, ob es wirklich echt ist. Für die Gefühlswelt des Jungen Jesse setzt der Film immer wieder künstlerisch verfremdete Videosequenzen ein, bei denen die Realität zwischen Licht und Schatten verschwimmt und verwackelt, gerade so, als hätte man Tränen in den Augen, die die Wahrnehmung trüben. Zu einem Ausbruch in Tränen ist Jesse erst ganz am Ende fähig, er hat einen schweren Weg der Trauer zurückgelegt, doch die Tränen sind eine Überwältigung, die Trauer findet einen Ausdruck. Aber sie sind keine Bewältigung, die Trauer mag schwächer werden, allerdings wird Jesse nie vergessen können, wie er seinen besten Freund verloren hat – sein Leben lang. "Violet" ist ein Film, auf den sich die Zuschauer einlassen müssen, wenn sie es tun, entdecken sie ein Kunstwerk, bei dem sich die Stimmungen unterschwellig aufbauen und die Geschichte durch die Gestaltung der Bilder entsteht. Am Ende fährt die Kamera am frühen Morgen langsam durch die stillen Straßen der Vorortsiedlung und immer mehr weißer Nebel quillt hervor, bis alles verhüllt ist.

Manfred Hobsch

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 138-2/2014 - Interview - Für die Trauer über den Verlust eines Freundes gibt es kein Ende

 

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