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Ausgabe 64-4/1995

DIE MÄRCHEN DER NACHT

Skaska, Rasskasannaja Notschju

UdSSR 1981. Produktion: Zentrales Studio für Kinder- und Jugendfilme Maxim Gorki, Moskau. Regie: Irma Rausch. Buch: I. Fjodorow. Kamera: Alexander Kowaltschuk, Oleg Runuschkin. Musik: W. Kuprewitsch. Schnitt: L. Drosdowa. Darsteller: Igor Kostolewski (Student), Alexander Lasarew (Räuber), Alexander Galibin (Peter Munck), Alexander Kaljagin (Holländer-Michel), Mara Svaigsne (Gräfin). 74 Min. Farbe. FSK: ab 6 J. – Früherer Titel: "Märchen in der Nacht erzählt"

Es waren einmal ein Uhrmacher und ein Goldschmied, die des Nachts durch einen finsteren Wald wanderten. Da sahen sie durch die Zweige ein Haus mit hell erleuchteten Fenstern, das jedoch leer war, obwohl noch Suppe auf dem Feuer stand. Zu ihnen stießen alsbald ein mutiger Student und ein ebenso geldgieriger wie ängstlicher Apotheker. Aus Angst vor der Dunkelheit erzählten sie sich Märchen. Der Student begann mit der Geschichte vom armen Peter Munk, der so gern ein reicher Mann werden wollte und sich deshalb dem berüchtigten Holländer-Michel übergab, der ihm für sein Herz eines aus Stein gab und ihm dafür fürstlichen Reichtum versprach. Fortan wurde Peter zwar reich, aber auch so hartherzig, dass er seine große Liebe verstieß, als sie den Armen helfen wollte.

Märchenkennern wird diese Geschichte als "Das kalte Herz" bekannt vorkommen. Fortan wechselt die Erzählung ständig zwischen den beiden Ebenen hin und her. Derweil der Student das Märchen erzählt, treffen im Haus eine schöne Gräfin samt Gefolge ein und alsbald wird die Gruppe von finsteren Räubern belagert, die die Herausgabe der Gräfin fordern. Einer der Männer verkleidet sich als Gräfin und sie geben sich den Räubern in die Hände, bei denen der Student zum Zeitvertreib das Märchen zu Ende erzählt. Da ergreift den Räuberhauptmann tiefe Reue, denn auch er heißt Peter Munk und ist ein Nachfahre des Unglücklichen. Er flieht mit der falschen Gräfin und dem Studenten zum zukünftigen Bräutigam der Gräfin, der sich jedoch als versnobter und grausamer Mann erweist. Als hier die Maske der "Gräfin" fällt, will er sie alle hängen lassen. Da erscheinen die Räuber und es entspinnt sich ein wildes Gefecht, in dessen Verlauf auch die echte Gräfin erscheint, die die drei befreit, denen die Flucht ins Wirtshaus gelingt. Zum Zeitvertreib erzählt nun der Räuber ein Märchen: Es waren einmal ein Uhrmacher und ein Goldschmied, die des Nachts durch einen finsteren Wald wanderten. Da sahen sie durch die Zweige ein Haus mit hell erleuchteten Fenstern ...

Irma Rauschs komplex, aber nie verwirrend erzählter Märchenfilm verknüpft auf schon fast geniale Weise zwei der bekanntesten Märchen von Wilhelm Hauff: "Das Wirtshaus im Spessart" und "Das kalte Herz". Natürlich ist dabei etwa "Das kalte Herz" nicht so ausführlich erzählt wie in Paul Verhoevens Klassiker von 1950; so hat Irma Rausch die Vorgeschichte mit dem Glasmännlein weggelassen. Sie gestaltet aber auch gänzlich andere Bilder für diese Geschichte: Ist bei Verhoeven der Wald selbst ein höchst zauberischer Ort, so wirkt er hier viel normaler und realistischer. Dafür wird klarer, warum der Holländer-Michel seinen Namen trägt: Denn er wohnt am Wasser und hat auch keine finstere Höhle im tiefen Wald, sondern eine Grotte direkt an der felsigen Küste. Dabei findet die Regisseurin für jede der einzelnen Geschichten einen eigenen Ton: Es beginnt dunkel im finsteren Wald, erhellt sich zu Beginn des "Kalten Herz" und verdüstert sich dann in dem Masse, in dem Peter Munk in die Fänge des Michel gerät.

Und gegen Ende hin findet sich auch hier jener stark antifeudalistische Witz, der viele der sowjetischen Produktionen auszeichnet: Da ist der Baron ein versnobter alter Knacker, den nur seine Macht zum gefährlichen Gesellen macht, derweil seine Ratgeber und Soldaten sich als ein Haufen tumber Toren entpuppen. Und zum Schluss hat sich der Kreis geschlossen: Erneut findet sich die Gesellschaft im Wirtshaus und der ewige Kreislauf des Geschichtenerzählens beginnt von neuem. Ein stimmungsvoller Märchenfilm, an dem Groß und Klein ihren Spaß haben und der ob seiner gekonnten Machart auch hart gesottene Gegner des Genres von dessen Qualitäten zu überzeugen vermag.

Lutz Gräfe

 

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