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Ausgabe 64-4/1995

DIE KLEINE MEERJUNGFRAU

Rusalka

UdSSR / Bulgarien 1976. Produktion: Zentrales Studio für Kinder- und Jugendfilme Maxim Gorki, Moskau; Studio für Spielfilme, Sofia. Regie: Wladimir Bytschkow. Buch: Grigori Borissowitsch Jagdfeld, Viktor Stanislawowitsch Witkowitsch, nach Märchenmotiven von Hans Christian Andersen. Kamera: Emil Wagenstein. Musik: Jewgeni Krylatow. Schnitt: G. Sadownikowa. Darsteller: Vika Nowikowa (Meerjungfrau), Juri Senkewitsch (Prinz), Galina Artjomowa (Prinzessin), Valentin Nikulin (Sculpius), Galina Woitschek (Wirtin). 76 Min., Farbe. FSK: ab 6 J. – Früherer Titel: "Die traurige Nixe"

Es war einmal eine Postkutsche auf der Fahrt durchs Land. In ihr sitzt ein Mann, der einem Mädchen ein Märchen erzählt: Das von der kleinen Meerjungfrau, die sich in einen Prinzen verliebte. Wladimir Bytschkows Film erzählt die weltweit bekannte Geschichte von der kleinen Nixe, die für ihre Liebe ihre Existenz aufs Spiel setzt, mit ein paar zentralen Abweichungen. Zunächst hat die Meerjungfrau hier eine Art väterlichen Beschützer, genannt Sculpius, in dem unschwer der Erzähler aus der Kutsche zu erkennen ist. Im gleichen Jahr entstanden wie die werkgetreue gleichnamige Verfilmung des Tschechen Karel Kachyna, setzt Bytschkow jedoch völlig andere Akzente. Während Kachyna von der aufopfernden Liebe erzählt, die die Meerjungfrau am Ende mit dem Tode bezahlt, berichtet Bytschkow von der Ignoranz und Arroganz des Prinzen (und aller Menschen), die dieser am Ende mit dem Verlust seines großen Kindheitstraumes bezahlen muss. Denn Sculpius geht für die Nixe in den Tod und bewahrt sie so vor dem Sterben. Doch fortan wird sie als unsterblicher Traum unter den Menschen wandeln und so lang der Prinz ihr auch nachläuft, er wird sie nie mehr erreichen. Denn wer seinen Traum einmal verriet, der hat ihn verloren, so lange er auch suchen mag. Insofern wird die Nixe hier am Ende für ihre selbstaufopfernde Liebe belohnt und der Prinz für seine Dummheit und Blindheit bestraft.

Also ein Märchen über die Liebe und wie sich die "Richtigen" nicht erkennen. Denn auch die Nixe wird geliebt, ohne dass sie es bemerkt; von Sculpius, der an ihrer Stelle in den Tod geht. Ein Film, der die Kaltherzigkeit und Grausamkeit der Menschen beklagt und in dem sich die Nixe als menschlicher denn alle Menschen (ausgenommen Sculpius) erweist. So ist sie die einzige, die sich vor dem Duell des Prinzen mit einem rivalisierenden Ritter fürchtet: "Ihr sagt, es ist ein Spaß. Aber es ist der Tod. Wie könnt ihr darüber lachen?", fragt sie die sensationslüsterne Menge. Der Film betrachtet die Welt der Menschen mit ihrem Treiben durch die Augen der Fremden und das Ergebnis ist nicht besonders erfreulich. An Stelle von Liebe und Verständnis regieren Habgier, Neid und Gefühlskälte; Menschen (hier der Prinz) vertrauen nicht ihren Träumen (und damit ihrem Herzen) sondern bloßen Behauptungen anderer. Und in ihrer Mitte die kleine Meerjungfrau, deren Los noch dadurch erschwert wird, dass sie unfähig ist, zu lügen. Das kann ihr unter den Menschen schnell den Tod bringen und wäre da nicht Sculpius, so erginge es ihr mehr als einmal so.

Ein thematisch vielschichtiger Märchenfilm, in dem die damals noch jugendliche Hauptdarstellerin die Nixe so exzellent verkörpert, als wäre sie es und spiele sie nicht nur. Hätte der Regisseur doch bloß auf die zuweilen hochkitschige Musik verzichtet oder sie zumindest zurückgenommen, denn die allgegenwärtigen Frauenchöre zu Geigenklängen zerstören allzu oft die Poesie der Bilder. Und ausgerechnet hier, wo die Lieder die Handlung vorantreiben und/oder kommentieren, hat man leider auf jede Übersetzung verzichtet, so dass sich ihre Funktion nur erahnen lässt. Bytschkow gelang hier eine Bearbeitung des Stoffes, die neben Kachynas meisterlicher Adaption ohne Schwierigkeiten bestehen kann.

Lutz Gräfe

 

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