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Ausgabe 65-1/1996

ENTFESSELTE HELDEN

UNSTRUNG HEROES

Produktion: Hollywood Pictures, USA 1995 – Regie: Diane Keaton – Buch: Richard LaGravanese, nach dem Buch von Franz Lidz – Kamera: Phedon Papamichael – Musik: Thomas Newman – Darsteller: Nathan Watt (Steven/Franz Lidz), Andie MacDowell (Selma Lidz), John Turturro (Sid Lidz), Michael Richards (Danny Lidz), Maury Chakin (Arthur Lidz) – Länge: 94 Min. – Farbe – Verleih: Buena Vista (35mm) – Altersempfehlung: ab 12 J.

Mit "Entfesselte Helden" präsentiert Diane Keaton nach ihrem Fernsehporträt der Fliegerin Amelia Earhart ("Amelia Earhart: The Final Flight") ihr Debüt als Spielfilmregisseurin. Und das kann sich sehen lassen. Es geht um den schmerzvollen Prozess des Erwachsenwerdens. Die Welt des zwölfjährigen Steven Lidz wird vor allem durch seinen Vater Sid geprägt, der ständig irgendetwas erfindet und seinen Sohn als Versuchskaninchen für Rasensprenger oder Pfadfinderzelte benutzt. Doch die "Wissenschaft" lässt den Jungen kalt, er möchte anerkannt werden von seinen Klassenkameraden. Er bewirbt sich als Klassensprecher, aber seine Wahlrede wird zum Desaster, nicht nur weil Steven den Faden verliert, sondern weil seine zwei obskuren Onkel die Veranstaltung vehement stören. Nicht allein dieser Misserfolg bedrückt den Heranwachsenden. Viel schlimmer ist die Krankheit seiner Mutter, die bisher durch ihre sanfte Art die Familie vereinte. Als Steven erfährt, dass seine Mutter an Krebs leidet und wahrscheinlich sterben wird, läuft er von zu Hause weg zu seinen Onkels. Die entführen ihn in eine ganz andere Welt, ein Universum der Kuriositäten. Der eine sammelt alte Zeitungen und archiviert die unglaublichsten Fundsachen, der andere überzeugt Steven, seinen Vornamen in Franz umzubenennen, damit er dem Namen des berühmten Komponisten näher kommt. Beide wecken in ihm Interesse an der jüdischen Religion, die der Vater als "Krücke" ablehnt. Durch die Onkel, bei denen er nach einigen Kämpfen bleiben darf, lernt das einsame Kind, wie wichtig es ist, Gefühle nicht nur in sich zu tragen, sondern sie auch auszudrücken. Als die Mutter stirbt, fühlt er sich für den Vater, der jegliche emotionale Regung ablehnt, verantwortlich. Zum Konflikt kommt es, als Steven Erinnerungen an das Familienleben achtlos weggeworfen in der Mülltonne findet. Sid hatte sich von alten Familienfilmen getrennt, um den tiefen Schmerz über den Verlust seiner Frau zu verdrängen. Erst durch die Hilfe seines Sohnes lernt er, seine Emotionen zu akzeptieren. Die Mutter ist unersetzbar, dennoch ist die Familie auch "größer" geworden, die leicht paranoiden Onkel gehören jetzt dazu.

Geschickt verknüpft Diane Keaton ein Stück Familiengeschichte mit der individuellen Geschichte des Erwachsenwerdens, die jeden jungen Menschen betrifft – die Einsamkeit, die Unsicherheit, die Sehnsucht nach Geborgenheit, aber auch den Drang nach eigenen und neuen Erfahrungen. Durch die Gegensätzlichkeit der Charaktere macht sie verschiedene Lebensentwürfe klar: Der Vater, der sich in die Welt der Wissenschaft flüchtet, um starken Bindungen aus dem Weg zu gehen, repräsentiert die Ratio; die beiden Brüder, die sich ihren Skurrilitäten verschrieben haben, in einer vollgestopften Wohnung hausen und sich in ihrer Scheinwelt glücklich fühlen, stehen für Chaos; die Mutter, die im Hintergrund alles zusammenhält, für Harmonie; der Junge versucht, zwischen den beiden Polen Verstand und Gefühl einen Konsens für die Zukunft zu finden. "Entfesselte Helden" ist auch eine Betrachtung über die Rolle von Außenseitern der Gesellschaft. Dass die am Ende in die Familie integriert werden, gleicht einem Aufruf zur Toleranz, zur Akzeptanz des "Andersseins".

Manchmal weckt der Film Assoziationen an Kindheitserinnerungen in Woody Allen-Filmen. Traum und Wirklichkeit sind kaum zu unterscheiden, die Erlebnisse des Jungen mit seinen Onkeln, die fast slapstickartigen Auseinandersetzungen mit dem Hausmeister, die antisemitischen Verfolgungstheorien der beiden alten Männer könnten auch als kleine Reisen in die Phantasie gesehen werden. Der Film besticht durch die leisen Zwischentöne, durch die gelungenen Brüche zwischen Komik und Tragik. Da übersieht man gerne einige "kleine" Längen.

Margret Köhler

 

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Ausgabe 65-1/1996

 

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