UdSSR 1969. Produktion: Zentrales Studio für Kinder- und Jugendfilme Maxim Gorki, Moskau. Regie: Alexander Rou. Buch: Michail Tschuprin, Alexander Rou. Kamera: Dmitri Surenski. Musik: Arkadi Filippenko. Darsteller: Michail Pugowkin (Zar Jeremej), Sergej Nikolajew (Andrej, der Zarensohn), Alexei Katyschew (Andrej, der Fischersohn), Anatoli Kubazki (Afonja, der Schreiber), Georgi Milljar (Zar Tschudo-Judo). 83 Min. Farbe. FSK: ab 6 J.
Es war einmal vor langer Zeit im Reiche des Zaren Jeremej. Dieser war so begierig, genau zu wissen, was ihm gehört, dass er alles, aber auch alles zählen ließ. Nachdem er und seine Schreiber alles gezählt hatten, fand er eine unbekannte Quelle. Als er sich über sie beugte, um aus ihr zu trinken, ergriff ihn eine große Hand am Bart. Die gehörte dem Zaren Tschudo-Judo, dem Herrscher unter der Erde. Er wollte ihn nur wieder loslassen, wenn Jeremej ihm gäbe, was er in seinem Land nicht kenne. Da aber alles gezählt war, gab ihm Jeremej das Versprechen; sicher, es nie einlösen zu müssen. Doch – oh Schreck – als er an seinen Hof zurückkam, erfuhr er, dass ihm in der Nacht der Thronerbe Andrej geboren worden war. Nun wurde ihm klar, dass er dem unterirdischen "Kollegen" seinen eigenen Sohn versprochen hatte. Doch sein Schreiber Afonja hatte eine Idee. Wie wäre es, wenn man das Kind gegen ein anderes in derselben Nacht geborenes austauschen würde. Gesagt getan: Afonja zieht zusammen mit seiner Ehefrau Praskowja los und in einer Fischerhütte finden sie auch ein Neugeborenes. Heimlich vollzieht Praskowja den Tausch, doch ihr ist nicht wohl dabei. Afonja kommt dazu und als sie ihn überreden will, auf den Tausch zu verzichten, nimmt er die Sache selbst in die Hand; nicht ahnend, dass er damit den ursprünglichen Zustand wiederherstellt.
18 Jahre später ist der Zarensohn Andrej ein fetter, verwöhnter Taugenichts geworden, derweil der Fischersohn zu einem ehrlichen und stattlichen jungen Manne heranwuchs, der dem Zaren viel Freude bereitet, glaubt er doch, das sei sein Sprössling. Im Reiche des Tschudo-Judo hat sich auch etwas getan. Seine Tochter wird erwachsen und sehnt sich danach, ein Mensch unter Menschen zu sein; vor allem aber sehnt sie sich nach der Liebe, von der ihr ihre Amme Stepanida mit verklärten Augen erzählt. Nun geht's erst richtig los. Auf Wunsch Tschudo-Judos soll ihm der Zarensohn übergeben werden, auf dass eine Hochzeit beide Reiche verbinde. Doch der ist ein schlechter Mensch: undankbar, herrschsüchtig und von sich selbst viel zu eingenommen. Das zeigt er, als er ins unterirdische Reich kommt und die hilfreichen Tiere, die ihn zu Tschudo-Judo bringen, um ihre verdiente Belohnung betrügt. Nein, einen solchen Mann will Warwara nicht. Sie stellt ihn auf die Probe, die er nicht besteht. Da erscheint der Fischersohn und deckt den vermeintlichen Betrug auf. Nun ist Tschudo-Judo wütend und lässt ihn in den Kerker werfen. Aber seine Tochter hat sich längst entschieden, befreit ihn und in einer wilden Verfolgungsjagd entkommen sie in die Oberwelt. Auch der andere Andrej gelangt zurück in die Oberwelt und nun endlich gesteht Praskowja, was seinerzeit wirklich geschah. Der Zarensohn wird Thronerbe und von den Kammerzofen wieder verwöhnt und verhätschelt. Warwara aber hat die Liebe ihres Lebens gefunden und glücklich wandern sie in die Welt. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann ...
Rous vorletzter Märchenfilm ist geprägt von einem fast überbordenden Einfallsreichtum. Schon die unzähligen Episoden und Elemente der Geschichte aufzuzählen, würde hier jeden Rahmen sprengen: Der Zähltick des Zaren, die doppelte Vertauschung der Söhne und niedliche, honigsüchtige Bären als Fuhrleute sind nur ein Teil der Fülle dieses vor allem zum Schluss recht rasanten Märchens. Da verwandelt Warwara sich und ihren Liebsten dauernd in neue Gestalten, um so den Verfolgern zu entkommen und mittels Zeitraffer erzeugt Rou noch zusätzlich – auch recht komische – Dynamik. Wieder wird die Geschichte von einem alten Mütterchen erzählt, die zwischendurch öfter erscheint, um den Fortgang zu kommentieren. Die Reiche der Zaren sind klar gegeneinander abgegrenzt: Oben das helle, lichte Reich des Jeremej, unten das finstere, stets etwas feucht-dämmrig wirkende Land des Tschudo-Judo. Wobei die beiden Herrscher nicht gerade besonders gut wegkommen: Tschudo-Judo ist ein zuweilen bösartiger alter Mann, und sein Widerpart ist ein wenig spinnert, wenn man nur an seinen Zähltick denkt. Und besonders ehrenhaft sind sie wirklich beide nicht. Ganz anders dagegen Warwara und ihr Fischersohn: Aufrichtig und gradlinig.
Doch ganz so eindimensional sind die Zuordnungen nun doch nicht geraten: Denn im kalten unterirdischen Reich gibt es nicht nur die Amme Stepanida, die sich aus Verzweiflung über den Tod ihres Liebsten ins Wasser stürzte und so hierhin gelangte. Da sind auch die helfenden Tiere: Die netten Bären und der freundliche Esel, die vom Zarensohn um ihren Lohn gebracht werden. Er gehört viel eher in dieses "Reich des Bösen", das (nicht nur) gemäß der russischen Volksdichtung ja stets unterirdisch ist. Warwara dagegen gehört von Charakter und Wesen gar nicht hierher: so aufrichtig und gar nicht verschlagen, wie sie ist.
Dass der Film trotz der Vielzahl von Episoden, Gestalten und Ereignissen sich nie verzettelt und immer wie aus einem Guss wirkt, das zeichnet Rous Arbeit in besonderem Maße aus. Ein Film, an dem alles stimmt bis ins letzte Detail: Eine märchenhafte Ausstattung, die für jeden Schauplatz den richtigen Ton findet, eindringliche Darsteller, ansprechende Musik und Lieder und bei alledem eine deutliche Parteinahme für die ehrlichen kleinen Leute, gegen die verlogenen Herrscher. Ein Höhepunkt im russischen Märchenfilm und zugleich schon fast das Ende einer Entwicklung, an der Rou maßgeblich beteiligt war. Nach ihm wird der Märchenfilm andere Wege gehen.
Lutz Gräfe
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