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Ausgabe 67-3/1996

EIN FALL FÃœR DIE INSELKINDER

LES ENFANTS DU NAUFRAGEUR

Produktion: K'ien Production – Gaumont; Frankreich 1992 – Regie: Jérôme Foulon – Drehbuch: Jérôme Foulon, François Cellier, Laurent Dussaux – Kamera: William Lubchansky – Schnitt: Elisabeth Guido – Musik: François Staal – Darsteller: Brigitte Fossey (Hélène), Jacques Dufilho, Pierre Alexis Hollenbeck, Benjamin Brault, Jean Marais (Marc Antoine) u. a. – Laufzeit: 106 Min. – Farbe – FSK: ab 6 – Verleih: Wild Utopia (35 mm) – Altersempfehlung: ab 10 J.

"Durch die tosenden Stürme und die Klippen von Kervolen erscheint die Geschichte vergangener Zeiten in den leuchtenden Flammen." Mit diesem Satz beginnt im Haus der alten Martha auf der kleinen bretonischen Insel Kervolen für die Kinder nahezu jeden Abend die Stunde alter Geschichten. Doch eines Tages ist es vorbei mit den grausig-schönen Erzählungen vom Strandräuber Marc Antoine und seinem Coup gegen die deutschen Besatzer im Jahre 1943. Als die gesamte Bevölkerung während eines Sturms die Opfer eines Schiffbruchs zu retten versucht, stirbt Martha in ihrem Haus bei einem Treppensturz: Mord oder Unfall? Derweil die Erwachsenen die Unfallversion vertreten, sind die Kinder fest davon überzeugt, jemand habe Martha ermordet und das Motiv sei neben dem Geld in ihrer verschwundenen Keksdose der sagenumwobene Goldschatz des Strandräubers gewesen, den dieser den Deutschen abgejagt haben soll. Und die Zahl der Verdächtigen scheint schier endlos: Was hat der leicht verrückte Küster an Marthas Haus gewollt und was hatte der dubiose Gelegenheitsarbeiter Louis dort zu suchen? Und auch der Bürgermeister ist verdächtig, erbt die Gemeinde doch Haus und Vermögen der Alten. Und was ist mit dem mysteriösen alten Mann auf Krücken, der auf einer vorgelagerten kleinen Insel lebt und seine zwei Hunde auf jeden hetzt, der sein Grundstück auch nur ansieht?

Da die Erwachsenen sich äußerst bedeckt halten, beschließen die Kinder eine Zeitung zu gründen, die "Gazette des Strandräubers"; denn Journalisten dürfen schließlich alles fragen und keiner stört sich daran. Gleichzeitig müssen sich die Kids – die sich geschworen haben, bei der Prüfung durchzufallen, weil sie sonst nämlich die Schule auf dem Festland besuchen müssten – mit der neuen Lehrerin Hélène befassen, die zudem auch noch in das Haus ihrer geliebten Martha einzieht. Die kann natürlich nichts taugen, und so wird beschlossen, sie zu boykottieren, und man verpasst ihr auch gleich einen Spitznamen: "Cholera". Doch Hélène gelingt es, sich mit den Kindern anzufreunden und gemeinsam gehen sie dem Geheimnis auf den Grund. Am Ende enthüllt sich die tragische Geschichte einer Liebe, die ein Leben dauerte und doch keine Erfüllung fand. Denn der alte Krüppel verrät ihnen im Sterben sein Geheimnis: Er ist Marc Antoine, wurde nach der Versenkung des deutschen Schiffes gefangen genommen und kam nach einer Pockenerkrankung entstellt und verkrüppelt zurück. Da er seiner über alles geliebten Martha nicht zur Last fallen wollte, nistete er sich in ihrer Nähe ein und besuchte mit Hilfe seines alten Freundes und Résistance-Kameraden Louis nachts heimlich Marthas Haus, um sie wenigstens sehen zu können. Und Marthas Tod war tatsächlich ein bedauerlicher Unfall und kein Verbrechen. Kurz bevor er stirbt, übergibt er den Kindern den Schlüssel zum Versteck des Goldschatzes, der all die Jahre unter einem unscheinbaren Denkmal lagerte. Und zum (etwas kitschigen) Ende gibt es wieder eine Kinderhochzeit; so wie einst zwischen Martha und Marc Antoine.

"Ich wollte ein Kinderuniversum schaffen" (Jérôme Foulon). Und das ist ihm geradezu vortrefflich gelungen. Ganz in der Tradition seines Landes stehend, erzählt Foulon hier eine jener Abenteuergeschichten um Kinderbanden, wie sie Jacques Fansten in "Hand aufs Herz", Michel Deville in "Die kleine Bande" oder als Urvater all dieser Geschichten Yves Robert im "Krieg der Knöpfe" lebendig werden ließ. Dabei versammelt er neben seinen überaus spontanen Kinderdarstellern gleich eine ganze Riege französischer Stars. Sein größter Coup war wohl die Verpflichtung des nicht nur in seiner Heimat zum Mythos gewordenen Jean Marais, der extra für diesen Film vor die Kamera zurückkehrte und noch einmal seine ganze Präsenz und Aura in die Waagschale wirft. Auch hinter der Kamera hat sich Foulon in seinem Spielfilmdebüt auf erfahrene Profis verlassen können: Kameramann William Lubchansky arbeitete zuvor u. a. für François Truffaut und Jacques Rivette. Seine intensive Licht- und Farbgebung verleihen dem fast ausschließlich aus Außenaufnahmen bestehenden Film ein starkes Maß an ungekünstelter Lebendigkeit. Hier ist die raue bretonische Landschaft nicht nur Kulisse, sie ist Teil der Handlung; zuweilen sogar handlungstreibend.

Foulon erzählt seine etwas komplexe Geschichte immer klar und nachvollziehbar und verknüpft viele Genres auf unterhaltsame Weise: Drama, Krimi, Abenteuergeschichte, Mythos der Résistance, eine zarte Kinderliebe und eine Dorfchronik. Alles in diesem Film ist perfekt ausbalanciert, wozu vor allem die exzellenten Darstellungen beitragen: Die Kinder agieren wie im Spiel, reden wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, und die Erwachsenen lassen sich mitreißen, verleihen ihren Figuren Wärme und Überzeugungskraft fernab aller Klischees. Ein gelungenes Beispiel für jene Art Unterhaltungskino, um das man die Nachbarn im Westen nur beneiden kann: Eine vielschichtige Kindergeschichte, die auch Erwachsene anspricht, souverän erzählt, und so bewegend und anrührend, dass man ihr den etwas kitschigen Schluss gerne verzeiht. (Der Film wurde 1992 beim Internationalen Kinderfilmfestival Frankfurt/Main mit dem "Lucas" ausgezeichnet.)

Lutz Gräfe

 

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