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Ausgabe 67-3/1996

KALTE NÄCHTE

Produktion: Filmfabrik Köln; Deutschland 1995 – Buch und Regie: Kadir Sözen – Kamera: Ertunc Senkay – Schnitt: Mevlüt Kocak – Musik: Ercan Vahap Durmus – Darsteller: Rahim Cakmak (Jacky), Levent Elmas (Tomix), Volkan Pinardag (Aziz), Ferdi Cetinkaya (Tam-Tam), Menderes Samancilar (Mahmud) – Länge: 92 Min. – Farbe – FSK: ab 12 J. (beantragt) – Verleih: Ventura Film Berlin (35mm) – Altersempfehlung: ab 14 J.

Filmdokumentation

Der Autor und Regisseur des Films, Kadir Sözen, 1964 in der Türkei geboren, lebt seit 25 Jahren in Deutschland. Seine Spezialität: türkisch-deutsche Themen als Dokumentationen oder Features für Presse, Hörfunk und Fernsehen. Der Spielfilm "Kalte Nächte" wurde im vergangenen Jahr in der Türkei gedreht, wo auch die Handlung angesiedelt ist. Vor einigen Jahren (1989) schrieb Sözen das Drehbuch für das von Hanno Brühl inszenierte WDR-Fernsehspiel "Sehnsucht": Zwei in Köln herangewachsene türkische Jugendliche halten sich nach der Rückkehr ihrer Eltern in die Türkei illegal in der Domstadt auf und lernen diese auf neue Art kennen. Der Film, der Türken und Deutsche gleichermaßen angeht, ist in der nichtgewerblichen Auswertung (KJF-Medienverleih) überaus erfolgreich.

Straßenmusik von unten

Bei TV-Recherchen in der Türkei kam Kadir Sözen vor ein paar Jahren mit Kindern zusammen, die auf der Straße lebten und Musik machten. Das war der Ausgangspunkt für "Kalte Nächte", die Geschichte von Tomix, Tam-Tam und Jacky und ihrem 'Onkel' Mahmud, einem Gossenimpressario, der die drei von der Straße geholt hat, sie ausnutzt, belügt und betrügt. Gemeinsam bereisen sie die Westküste, wo die Touristen spendierfreudig sind. In den Wintermonaten sind die Nächte besonders kalt; nur in den großen Städten lässt es sich überleben. Die Jungen treten dann in Bordellen, Bars und Kneipen auf, aber das Geld reicht vorne und hinten nicht.

Hier geht es nicht um Fiktionen wie bei Onkel Donald und seinen drei Neffen, sondern um die raue Wirklichkeit und eine Handvoll Menschen im alltäglichen Überlebenskampf. Der 13-jährige Tomix, beispielsweise, kann sich nur auf Krücken fortbewegen. Mahmud, eine dem Bettler Peachum aus der "Dreigroschenoper" vergleichbare Figur, setzt auf den Mitleidseffekt beim Publikum. Als es ihm auch noch gelingt, den jungen blinden Sänger Aziz von dessen Familie loszukaufen, mehren sich die Hoffnungen aller auf eine große Karriere. Im Sommer ziehen sie durch die Touristenorte an der Westküste; das Geld fließt nun reichlicher als zuvor. Mit zunehmendem Erfolg regt sich der Widerspruch der Musiker gegen Mahmuds Methoden und falsche Versprechungen. Als sich Aziz offen gegen ihn auflehnt, bringt dieser ihn kaltblütig um. Der Konflikt eskaliert, und zwischen Mahmud und seinen Zöglingen kommt es zur letzten, tödlichen Auseinandersetzung.

Nah an der Realität und an den Menschen

"Kalte Nächte" ist eine No-Budget-Produktion von 120.000 DM. Mit diesen, von deutschen Filmförderungsgremien mühsam zusammengekratzten Mitteln, lassen sich normalerweise nicht einmal die üblichen Vorbereitungskosten eines Spielfilms decken. Sözens Arbeiten zeichnen sich allerdings durch gründliche Recherchen und Authentizität und nicht durch Starbesetzungen oder Spezial effects aus. Es verwundert daher nicht, dass er über das geringe Budget nicht lange jammert, sondern sich dadurch sogar herausgefordert fühlt: "Wenig Geld für einen Film zu haben, bedeutet vor allem extrem schwierige Bedingungen und eingeschränkte Möglichkeiten: Wenig Zeit, begrenztes Material, nicht die neueste und beste Technik, keine bekannten Schauspieler, wenig Komparsen. Bei der Authentizität geht es um meine Art zu arbeiten; ich will so nah wie möglich an der Realität und an den Menschen sein."

Straßenkids als Filmkids

"Kalte Nächte" überzeugt durch seine klare Konzeption, seine parteiliche Perspektive und durch eine dem Thema angemessene Ästhetik. Der Film ist rau und direkt; er provoziert, indem er Postkartenidyllen radikal gegen den Strich bürstet und einen ungeschönten Ausschnitt aus der Alltagsrealität türkischer Straßenkinder zeigt. Die Bilder sind hart und unangenehm, aber die Musik ist wunderschön.

Entscheidend für die Atmosphäre des Films sind die Glaubwürdigkeit der Charaktere und seine Protagonisten; seine Qualität liegt in der Herangehensweise. Zwei Monate lang wurde in den einschlägigen Etablissements nach geeigneten Darstellern gesucht; danach folgte ein zweiwöchiges Casting mit täglich 10 bis 14 Stunden Vorspielen und Musik. Für den Filmemacher bedeutete dies, sensibel und flexibel zu reagieren: "Die Kids waren nicht an Regelmäßigkeiten gewöhnt, an einen festen Tagesablauf. Immer wieder war mal einer verschwunden, manchmal sind sie nachts aus dem Hotel geschlichen. Aber das waren kurze Ausbrüche, bei den Dreharbeiten hatten sie ziemlichen Spaß und waren voll dabei."

Wer mit Laien arbeitet, besonders mit Kindern, trägt ihnen gegenüber eine besondere Verantwortung. "Wir haben uns lange überlegt, was mit den Kindern nach den Dreharbeiten passieren könnte, ob man ihnen eine Schule oder ein Internat vermitteln könnte oder irgendeine Perspektive bieten. Aber das hat nicht funktioniert. Sie hatten keine Lust dazu. Sie kennen nur die Straße. Ein Korsett – und das wäre eine tägliche Ausbildung und Schule – vertragen sie nicht, da brechen sie sofort aus. Die Straße ist ihr Leben."

Akzeptanz und Resonanz

Ein unterfinanzierter Film mit sozialkritischer Grundhaltung, ein deutscher Spielfilm, der weder Beziehungsprobleme aufarbeitet, noch dem populären Komödientrend nachjagt, hat es beim Publikum nicht leicht. Gewiss, folkloristisches Entertainment oder Mainstream-Kino wird hier nicht geboten, dafür aber ein außergewöhnlich authentischer Musikfilm und die Story einer Band, deren Karriereleiter anders gestrickt ist als in der genrebewährten Tradition.

Der Film, der im Oktober 1995 beim Internationalen Filmfestival in Hof uraufgeführt wurde, erhielt auf Festivals in Adana, Antalya, Ankara und Istanbul zahlreiche Preise und Auszeichnungen und wurde außerdem mit dem FBW-Prädikat 'besonders wertvoll' ausgezeichnet. Der Film wird im 35mm-Format in der türkischsprachigen Originalfassung mit deutschen Untertiteln ausgeliehen, was seinem Anspruch auf Authentizität in idealer Weise gerecht wird.

Filme für Türken und Deutsche

Kadir Sözen sieht sich als Kölner Filmemacher, weil er hier nach seinem Studium der Wirtschaftswissenschaften das Filmemachen gelernt hat; "aber ich bin genau so gut ein türkischer Filmemacher oder ein deutscher oder ein internationaler. Meine Filme richten sich nicht an ein bestimmtes Publikum. Ich will Geschichten erzählen, und ich hoffe, dass sie für viele unterschiedliche Menschen interessant sind."

Seit 1995 ist Sözen Gesellschafter und Autor einer "Filmfabrik für Fernsehproduktionen, Spiel- und Dokumentarfilme" – ein Pool kreativer Filmemacher, Drehbuchautoren und Journalisten mit internationalen Produktionserfahrungen. Zurzeit arbeitet er an seinem nächsten Spielfilm (Arbeitstitel: "Winterblume"). Es geht um einen ca. 30-jährigen Türken, der nach seiner Abschiebung versucht, mit der Hilfe einer Schieberbande zu seiner Familie in Deutschland zurückzukehren. Das 'dramatische Roadmovie' wird in der Türkei, in Bulgarien, Ungarn, Österreich und Deutschland gedreht. Wieder ein No-Budget-Film; und seine Qualität erweist sich wieder einmal mehr in dem Engagement und der Beharrlichkeit seines Autors, auf Filme gegen den allgemeinen Trend zu setzen.

Horst Schäfer

 

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