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Ausgabe 70-2/1997

DIE KIRSCHENERNTE

DE KERSENPLUK

Produktion: Studio Nieuwe Gronden; Niederlande 1995 – Regie: Arno Kranenborg – Buch: Arno Kranenborg, Steven van Galen – Kamera: Goert Giltaij – Schnitt: Stefan Kamp – Musik: Wouter van Bemmel – Darsteller: Finbarr Wilbrink (Jan), Anton Starke (Großvater), Ricky Koole (Marie) u. a. – Länge: 95 Min. – Farbe – 35mm – Weltvertrieb: Studio Nieuwe Gronden, Van Hallstraat 52, NL-1051 HH Amsterdam, Tel. 0031-20-6867837, Fax 0031-20-6824367 – Altersempfehlung: ab 14 J.

In seinem ersten langen Spielfilm nach etlichen Arbeiten fürs Fernsehen erzählt Arno Kranenborg mit großer Gelassenheit von den bittersüßen Erfahrungen des Erwachsenwerdens, ohne dabei irgendwelchen Ambitionen auf formale Innovationen zu frönen. Der 1959 geborene Niederländer setzt vielmehr auf erlesene Bilder, lange Einstellungen, eine linear erzählte Geschichte und liebevoll gezeichnete Charaktere – Qualitäten des klassischen Erzählkinos also. Auf dem Internationalen Filmfestival in Mannheim-Heidelberg, wo die "Kirschenernte" 1996 im Wettbewerb lief, bekam der Film großen Beifall.

Im Mittelpunkt steht der 13-jährige Jan, der in den Sommerferien gerne zu seinen Großeltern in ein kleines Dorf im Norden der Niederlande fährt. Zusammen mit seiner älteren Cousine Marie hilft er dort beim Pflücken der Kirschen und verliebt sich prompt in das Mädchen. In diesem Jahr ist jedoch alles anders: Die Großmutter ist gestorben, der Großvater ernährt sich nur noch von Fertiggerichten, und Marie wirkt ziemlich distanziert. Schon bald findet Jan heraus, dass sie schwanger ist von einem leichtlebigen Luftikus, der in einer nahe gelegenen Gaststätte kellnert und stets knapp bei Kasse ist. Als der sie zur Abtreibung drängt, weigert sie sich. Beim Stöbern im Kochbuch seiner Oma findet Jan nicht nur etliche Rezepte, die er – mit mäßigem Erfolg – ausprobiert. Zwischen Seiten stecken auch etliche alte Fotos und Briefe, aus denen Jan so manches erfährt, was er bis dahin nicht wusste.

Einige Monate später stirbt der Großvater. Jan reist zur Beerdigung an und trifft in der winterlichen Kälte noch einmal Marie. Zum Zeichen seiner Zuneigung schenkt er ihr eine Schachtel mit "Mon Chérie"-Pralinen, die er ihr im letzten Sommer mitgebracht, aber nicht gegeben hat. Marie hat inzwischen beschlossen, den Vater ihres Kindes zu heiraten. Am Ende fährt Jan mit dem alten Motorrad seines Großvaters davon. Hinter ihm sitzt mit flatternden Flügeln die Lieblingsgans des Großvaters – ein wunderbares Schlussbild voller Poesie.

Rein äußerlich passiert also nicht viel, dafür konzentriert sich der Regisseur umso stärker auf die präzise Beschreibung des Alltagslebens in der Provinz. Und das kann bei ihm viel spannender sein als es vordergründige Action wäre. So zum Beispiel, wenn der alte Mann und sein Enkel die gepflückten Kirschen einwecken. Mit viel Geduld und leiser Ironie werden die Eigenheiten der Menschen geschildert, die dem Zuschauer ans Herz wachsen. Eine beschauliche Ruhe strahlen auch jene Einstellungen aus, in denen Kranenborg zeigt, wie Jan versucht, seinen wortkargen und in sich gekehrten Großvater aufzumuntern und ihn ins Leben zurückzuholen. Über den Bildern des Familiendramas liegt fast immer eine zarte Wehmut. Die autobiografische Prägung ist unübersehbar. Der Film wurde denn auch in der Provinz Drenthe gedreht, wo der Regisseur geboren wurde.

Nach Aussage von Kranenborg ist "Die Kirschenernte" in gewisser Weise eine Variation seines Abschlussfilms an der Kunstakademie in Enschede, des Musicals At Paris Top: "In beiden Filmen geht es um Menschen, die einfach nur das Glück vermissen, mit anderen Worten: Um jeden." Trotz der nostalgischen Rückschau auf verlorenes Kindheitsglück vermeidet der Regisseur und Autor jedes Abdriften in eine kitschige Stilisierung der ländlichen Idylle. Mit "Die Kirschenernte" ist ihm vielmehr ein sensibles Porträt von Menschen gelungen, die an entscheidenden Stationen ihres Lebens versuchen, ihren eigenen Weg zu finden.

Reinhard Kleber

 

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