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Ausgabe 70-2/1997

TIC TAC

Produktion: Avanti Films; Spanien 1997 – Regie: Rosa Vergés – Buch: Rosa Vergés, Edmond Roch – Kamera: Tomas Pladevall – Schnitt: Raul Roman – Musik: J.M. Pagan – Choreografie: Marta Almirall – Darsteller: Sergi Ruiz (Hector), Marti Milla (Bibu), Laia Solis (Olivia), Lluisa Castell (Hectors Mutter), Jordi Boixaderas (Hectors Vater), Luciano Federico (Bahnhofsvorsteher), Kike Neant (Sonne), Marian Aguilera (Mond), Richard Marshall (Blitz) u.v.a. – Länge: 90 Min. – Farbe – 35mm – Weltvertrieb: z. Zt. noch offen (Kontakt: Avanti Films S,A., Ronda Sant Pere 46 5è, E-08010 Barcelona, Tel. 0034-3-2681233, Fax 0034-3-2681617) – Altersempfehlung: ab 6 J.

Selbst Computer-Kids dürften ins Staunen kommen angesichts dieses originellen, poetischen, musikalischen und ungewöhnlich spielfreudig vitalen Films der Spanierin Rosa Vergés. Genauer: Katalanin, denn in ihrer Geburtsstadt Barcelona, in der sie auch heute noch zu Hause ist, wurde die Idee zu "Tic Tac" geboren und der Film gedreht, in katalanischer Sprache.

Es ist tatsächlich bemerkenswert, dass ein so klassisch anmutendes und doch in seiner Gedanken- und Assoziationsstruktur so modernes Märchen völlig ohne digitalen Firlefanz auskommt. Stattdessen gibt es Musik und Tanz: Ballett, choreografierte Poesie und Phantasie. "Tic Tac" ist ein Film, der sich erstaunlich weit in die kindliche Welt hineinfühlt und -denkt. Die Erwachsenen sehen nicht auf "die Kleinen" herab, sie bekommen gar keine Chance dazu – und verschwinden ziemlich bald aus der Handlung. Erst am Ende tauchen sie wieder auf, die Eltern, wenn die Zeit der spielerischen, phantastischen Gemeinsamkeiten und Erkundungen vorbei ist.

Zeit – das ist eines der Hauptthemen in "Tic Tac". Das Gefühl für Zeit, das Verrinnen der Stunden, die auf der Bahnhofsuhr einfach verschwinden: das Zifferblatt verliert eine Zahl nach der anderen. So geht die Zeit sichtbar vorbei, und das Geheimnis um diesen Vorgang findet bei Rosa Vergés eine faszinierende Bilderfolge als allegorische Märchen-Lösung, die ganz organisch und verständlich aus der Realität der Kinder erwächst.

Der 6. Januar, Tag der Heiligen Drei Könige, ist in Spanien ein Tag der Geschenke für die Kinder. Die schreiben – wie bei uns an den Weihnachtsmann – Briefe an die drei Weisen aus dem Morgenland und äußern darin ihre Wünsche. Der siebenjährige Hector wünscht sich diesmal etwas Ungewöhnliches: Er will die Ewigkeit kennen lernen. In einem Gespräch mit seinem Vater fiel dieser Begriff, der dem Jungen dann als "etwas, das keinen Anfang und kein Ende hat", erklärt wurde. Hector reist mit seinen Eltern über die Feiertage nach Frankreich, doch unterwegs nimmt diese Reise für ihn einen unvorhergesehenen Verlauf. Als der Zug auf einem namenlosen, geheimnisvollen, kleinen Bahnhof hält, steigt Hector aus und wirft seinen Wunschbrief an die Heiligen Drei Könige in einen entsprechenden Briefkasten. Und während er das tut, fährt der Zug ab, ohne ihn. Verängstigt und mutterseelenallein auf dem Bahnsteig, sieht er plötzlich, dass die Zahlen auf dem Zifferblatt der Bahnhofsuhr auf unerklärliche Weise verschwinden, die Stunden verloren gehen.

Doch glücklicherweise wird Hector vom rätselhaft schweigenden Bahnhofsvorsteher unter die Fittiche genommen und lernt in der kuschelig warmen Stube bei ihm dessen zwölfjährigen Sohn Bibu und sechsjährige Tochter Olivia kennen. Bibu ist behindert, sitzt im Rollstuhl, aber ist voller genialem Einfallsreichtum. Olivia spielt Geige und macht köstliche Nachspeisen. Beide freuen sich über einen neuen Spielgefährten und helfen ihm, die verlorene Zeit wieder zurück zu gewinnen.

Hier nun beginnt der Film, wie Hector im Wunderland, ein neues, magisches Eigenleben. Plötzlich sind wir in einer anderen Welt und entdecken mit Hector, Bibu und Olivia, wie lebendig die Zeit ist. Tief drinnen in den Uhren erschließt sich eine wunderbare Welt der Phantasie. Es wird gesungen, getanzt, Tiere, Sonne, Mond, Natur tauchen in phantastischer Gestalt auf. Träume werden lebendig, und Fragen finden ihre Antworten. Am Ende hat diese ganze Nacht einen einzigen Augenblick gedauert, und Hector fährt mit seinen Eltern weiter nach Frankreich – jetzt mit einem großen Glücksgefühl über das Erlebte und die Freundschaft mit Bibu und Olivia.

Rosa Vergés, die auch das Drehbuch (zusammen mit Edmon Roch) nach eigenen Ideen geschrieben hat, geht auf sehr zärtliche, aber nie realitätsferne Weise mit Zauber und Magie um, unterstützt von der Choreografin Marta Almirall und deren liebevoll witzigen Ballett-Figuren. Musical, Märchen, Menschen auf der Leinwand – keine virtuellen Roboter, keine Zeigefinger-Moral, keine Belehrung. Stattdessen: Respekt und Achtung vor den Kindern, ihren Gefühlen, Gedanken, Wünschen, Träumen – ein Liebesfilm.

Frauke Hanck

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 70-2/1997 - Interview - Man kann sein ganzes Leben lang Kind sein ...

 

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