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Ausgabe 77-1/1999

"Kindheit ist wie eine große Landschaft"

Gespräch mit dem dänischen Regisseur Jesper W. Nielsen

(Interview zum Film FÃœR KINDER VERBOTEN)

Jesper W. Nielsen (Jahrgang 1962) hat bereits mit dem Kurzspielfilm "Der Vorstadtkrieger" (1987), seinem Abschlussfilm auf der Dänischen Filmschule, auf Anhieb mehrere internationale Preise gewonnen. Nach einigen Kurzfilmen und seinem ersten langen Spielfilm "Der letzte Wikinger" (1995) hat er seine jüngste Arbeit "Für Kinder verboten", eine Kombination aus zwei eigenständigen Kurzfilmen mit den gleichen Hauptdarstellern, auf dem Filmfestival Cinekid 98 in Amsterdam vorgestellt. Dort war ihm in diesem Jahr eine Retrospektive gewidmet.

KJK: Was bedeutet der Filmtitel?
Jesper W. Nielsen: "In Dänemark heißt der Film übersetzt 'Verboten für Kinder', was zwei Bedeutungen einschließt. Die wichtigere bezieht sich auf das, was im ersten Teil geschieht. Es ist wichtig, dass Kinder ihre eigenen Schritte zum Erwachsenwerden finden und dass ihnen die Möglichkeit erhalten bleibt, Kinder zu bleiben statt sich selbst wieder um Kinder kümmern zu müssen, wie es im Film passiert. Die zweite Bedeutung liegt darin, dass Eltern manchmal dazu neigen, Kindern wichtige, aber gefährliche Dinge zu verbieten. Sie halten es zwar für besser, nicht darüber zu reden, übersehen aber, dass ihre Kinder Bescheid wissen und – da die Eltern schweigen – versuchen müssen, ihre Probleme selbst zu lösen."

Wie lange dauerten die Dreharbeiten?
"Insgesamt zehn Wochen. Zuerst fünf Wochen, und dann nach einer Pause wegen der Kinder noch Mal fünf Wochen."

Wie hoch war das Budget?
"Zehn Millionen dänische Kronen. Das sind etwa 2,5 Millionen DM."

Waren die beiden Geschichten ursprünglich eigenständig?
"Wir haben beide zur gleichen Zeit gedreht. Sie wurden aber als Kurzfilme finanziert, geschrieben und von mir gedreht. Wir haben allerdings schon daran gedacht, sie zusammenzufügen, denn ich finde, es passt gut zum ersten Teil, wenn wir zeigen können, dass es auch danach noch ein Leben gibt und einen Ausweg aus diesen schrecklichen Problemen des ersten Teils."

Ist auch ein dritter Teil vorgesehen oder gar eine Serie?
"Ein Plan für eine Serie liegt nicht vor. Aber vor diesem Film haben wir den 18-minütigen Kurzfilm 'The Bogeyman' gedreht, in dem die gleichen Kinder und die Großmutter spielen. Es ist eine Art kleiner Thriller über die Eifersucht zwischen Bruder und Schwester."

Warum unterscheiden sich die beiden Hälften so stark?
"In der Tat, die beiden Teile sind wie Feuer und Wasser. In den Farben, der Stimmung und der Story könnten sie nicht gegensätzlicher sein. Ich hielt es für interessant, herauszufinden: Ist es möglich, einen Film mit so unterschiedlichen Farben zu drehen und in den Bildern die richtige Stimmung zu finden? Daher habe ich jede der beiden Geschichten so optimal wie möglich zu machen versucht, so dass jede für sich gezeigt werden kann. Ich habe gehofft, dass diese Feuer und Wasser-Idee trägt, und viele Leute bestätigen das."

Es gibt aber auch Zuschauer, die sagen, dass die beiden Teile nicht zusammenpassen.
"Das bedeutet mir nicht sehr viel. Wichtig ist vor allem, was ich fühle. Ich habe dieses Argument übrigens noch nie von Kindern gehört. Nur einige Erwachsene sehen darin ein Problem. Wenn man den Film als Ganzes betrachtet, stellt man fest, dass der Film plötzlich sechs Akte hat. Dafür gibt es in der Tat keine Dramaturgie. Wir müssen daher bereit sein, gerade das zu vergessen, was wir eben gesehen haben. Nach dem ersten Teil wird man starke Gefühle empfinden, man braucht also eine Weile, um das hinter sich zu lassen und sich in die neue Fabel hineinziehen zu lassen. Kinder dagegen können sich sehr schnell an neue Umstände anpassen."

Im ersten Teil geht es unter anderem um Tod und Suizid. War diese Thematik in einem Kinderfilm für Sie eine Herausforderung?
"Der Drehbuchautor und ich ließen uns von alten Märchen wie denen von Grimm inspirieren, erschreckende Geschichten mit Monstern und Hexen und sämtlichen Arten von Aberglauben. Der Grund, warum wir diese Geschichten so mögen, liegt darin, dass sie uns davon erzählen, was das Leben ist. Und sie erzählen über Probleme, mit denen wir uns im Innersten auseinander setzen müssen. All die Probleme, die mit dem Kindsein und Erwachsenwerden verbunden sind, werden dort in einer symbolischen Sprache beschrieben. Allerdings hat man diese Märchen im Laufe der Zeit verändert und in einer unaufrichtigen Weise benutzt. Man hat alle Gefahren entfernt und sie harmlos, süß und nett gemacht, so dass sie ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben. Es scheint so, als ob die Erwachsenen die Kinder ein Stück weit von der Wirklichkeit wegnehmen und nicht mit ihnen darüber sprechen wollen. Es ist seltsam, dass wir diese Geschichten beinahe verloren haben. Ich möchte dagegen gerne Filme für Kinder drehen wie ein Grimm-Märchen in moderner Art."

Neben der Todesthematik spielt im ersten Teil auch das Problem, in peinlichen Situationen die Wahrheit zu sagen, eine große Rolle. Welche Funktion hat dieser Aspekt in der Filmerzählung?
"Wir haben lange Gespräche mit vielerlei Fachleuten geführt, die mit solchen Kindern tagtäglich zu tun haben. Sie haben den Film gesehen und sind wirklich zufrieden damit, sie finden sogar, dass sie davon Gebrauch machen können, da er von Wirklichkeit und Wahrheit handelt und wahrhaftig über das Leben von Kindern erzählt. Die Experten wären glücklich, wenn wir endlich anfangen könnten zu sprechen, damit nicht ständig so viele verkorkste Kinder zu ihnen kommen müssten. Wir Erwachsene aber ziehen es oft vor, Kinder in einen Raum des Schweigens zu setzen und versuchen, nur ja nicht mit ihnen über ernste Probleme zu sprechen. Das ist aber heutzutage unmöglich, weil wir in einer Informationsgesellschaft leben und die Unschuld der Kindheit nahezu vorbei ist. Da die Kinder der Wirklichkeit ohnehin ständig begegnen, brauchen wir eine andere Beziehung zu ihnen. Wenn wir ihnen nicht die Wahrheit sagen, lassen wir sie allein. Und das geschieht leider allzu oft. Nachdem ich diesen Film fertig gestellt und mit so vielen Erwachsenen gesprochen habe, ist für mich klar: Es gibt einen großen Unterschied, wie Kinder das sehen und wie Erwachsene meinen, dass Kinder es sehen."

Im zweiten Teil zeigen Sie die Kinder oft als kleine Erwachsene, in den Tanzszenen und romantischen Momenten entsteht sogar der Eindruck einer gewissen Sexualisierung der Kinder. Wie sehen Sie das?
"Schon bei Kindern unter zehn Jahren fängt das an. Sie fürchten 'es', weil sie es für unanständig und schrecklich halten. Die Art, wie sie es hassen, zeigt aber, dass es ihnen etwas bedeutet. Vielleicht sollten wir Filme nicht so sehr als realistische Erzählung ansehen, sie sind eher eine Art Märchen. Ich würde es nicht Sexualisierung nennen, sondern stattdessen ein Bewusstsein, dass es vielleicht doch nicht so unanständig ist, wie man glaubt. Das einzige was in dem Film wirklich passiert: Die Heldin akzeptiert, dass sie den Jungen gern zum Freund haben würde und dass Sex vielleicht doch nicht nur etwas Schreckliches ist. Ich glaube, Kinder wissen sehr wohl, dass sie diese Probleme verstehen müssen."

Bei einigen Tanzhallenszenen, in denen die Kinder sich schick machen und schminken wie Erwachsene, hatte ich die Assoziation von Karaoke-Shows. Sie sind nicht mehr sie selbst, sondern spielen eine Rolle und übernehmen so die Identität eines Fremden.
"Zu Karaoke kann ich nichts sagen, für mich war es nur eine Tanzschule. Bei uns in Dänemark gibt es solche Tanzschulen, wo Kinder wie Erwachsene angezogen sind. Deshalb habe ich diesen Drehort gewählt. In der Tat versuchen Kinder in diesem Alter herauszufinden, wie es ist, ein Erwachsener zu sein. Zu Beginn ist es nur ein Spiel um des Spaßes willen, aber irgendwie experimentieren sie damit."

Sie haben ja bisher ausschließlich Kinderfilme gedreht. Sehen Sie sich als Spezialist auf diesem Gebiet?
"Ich mag es, die Kindheit zu beschreiben, denn sie ist wie eine große Landschaft. Wenn man hindurchgegangen ist und alles gesehen hat, ist man bereit, ein Erwachsener zu sein. Es gibt so viele schreckliche Dinge, Krisen und Gefühle, die man lernen muss zu verstehen. In gewisser Weise ist Kindheit ein Raum, in dem man herumwandert und herauszufinden versucht, wer man ist und was der Sinn um einen herum ist. Wenn ich Kinderfilme drehe, mache ich sie nicht speziell für Kinder. Ich glaube, du musst sie für dich selbst machen, wenn sie zählen und irgendeine Wichtigkeit haben sollen. Dann kann man nur hoffen, dass die Kinder mögen, was du selbst magst."

Dänemark erscheint dank seiner 25-Prozent-Quotenregelung zugunsten des Kinderfilms vielen europäischen Kinderfilmschaffenden wie ein Paradies. Ist es das?
"Für mich war das System wunderbar, denn es sind viele gute Regisseure daraus hervorgegangen, die ich kenne und von denen ich gelernt habe. Man kann ihre jahrelange Erfahrung nutzen, schließlich ist man nicht der erste. Ich verstehe wirklich nicht, dass andere Länder diese Sache nicht ernster nehmen, denn es ist wichtig, einige Filme zu haben, die mit Disney in Wettbewerb treten können und dem Publikum qualitätvolle Geschichten erzählen."

Mit Jesper W. Nielsen sprach Reinhard Kleber

 

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