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Ausgabe 77-1/1999

Unterhaltung mit Qualität

Gespräch mit Claus Strigel (Regisseur und Co-Autor) und Bertram Verhaag (Produzent) über das Kinofilm- und TV-Projekt "Die grüne Wolke" nach Alexander S. Neills Bestseller "The Last Man Alive"

(Interview zum Film DIE GRÃœNE WOLKE)

Produktion: Denkmal-Film in Koproduktion mit TELLUX Dresden – Drehbuchförderung: FFF Bayern und Stiftung Kuratorium junger deutscher Film – Development-Förderung: Filmboard Berlin-Brandenburg, Media II – Produktionsförderung: FFF Bayern, MDM und die ARD-Sender BR, HR, SFB sowie Kinderkanal – Drehbuch: Claus Strigel, Martin Östreicher – SFX: Tyron Montgomery (Oscar für "Quest") – Produktionsdesign: Joseph Sanktjohanser – Kamera: Charly Koschnik – Verleih: Advanced Film

Kurzinhalt: Fast die ganze Menschheit wurde von einer geheimnisvollen grünen Wolke in steinerne Statuen verwandelt. Verschont blieben acht Kinder, deren Lehrer Birnenstiel und ein amerikanischer Milliardär, in dessen Fun-Shuttle sie überleben konnten. Vor diesem Hintergrund erzählt Birnenstiel eine bizarre Abenteuergeschichte, in der er selbst und die zuhörenden Kinder die Helden sind. Als der Erzähler zu weit geht, bestimmen die Kinder ihre Geschichten selbst.

KJK: Wie sieht die Finanzierung Ihres Projektes "Die grüne Wolke" aus?
Claus Strigel: "Das Gesamtbudget beträgt ca. 11 Millionen Mark. Das Projekt erhielt bisher Fördermittel vom FilmFernsehFonds Bayern, von der Filmförderung Berlin-Brandenburg, Mitteldeutsche Medienförderung, Media II, einigen ARD-Anstalten und von der Stiftung Kuratorium junger deutscher Film. Verliehen wird der Film vom Münchner Advanced Filmverleih."

Welche Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Kinderfilmförderung durch die Stiftung Kuratorium junger deutscher Film?
Strigel: "Das Kuratorium war und ist sehr entscheidend, weil die Leute vom Kuratorium diejenigen waren, die sich mit dem Stoff detailliert beschäftigt und die auch die Koordinationsaufgabe mit den Länderförderern wahrgenommen haben. Das Kuratorium hat uns über eine schlimme Durststrecke Mitte des Jahres 1998 geholfen, als eine völlig neue Drehbucharbeit für den Kinofilm nötig war, was sie mit 80.000 Mark im Rahmen der finanziellen Drehbuchförderung unterstützten. Diese neue Kinodrehbuchfassung war für den Antrag beim FilmFernsehFonds Bayern die gültige und ich glaube, dass man sich dort auf die Kuratoriumsförderung bezogen hat. Da gab es eine gute Zusammenarbeit. Aber es ist nicht nur die Förderung wichtig, sondern auch die Begleitung durch Thomas Hailer, der sich auf allen Ebenen – nicht nur dramaturgisch, sondern auch koordinierend – immer wieder einsetzt."

Gab es eine besondere Beziehung zu dem Buch "Die grüne Wolke", wie kam es zur Verfilmung?
Strigel: "Das Buch wurde erst Anfang der 70er-Jahre von Harry Rowohlt ins Deutsche übersetzt, obwohl Alexander Neill die Geschichte bereits 1931 erzählt hat und 1932 als Buch unter dem Titel 'The Last Man Alive' veröffentlicht. Als 'Die grüne Wolke' hier erschien, war sie ein richtiger Bestseller und ist seitdem ein Dauerseller. Ich habe das Buch so mit 18 zum ersten Mal gelesen, in jener Zeit, als Neill und die Summerhill-Schule aktuell waren, und dachte dann später – zu Zeiten von 'Echt tu matsch' zum Beispiel – immer wieder, was für ein phantastischer Film das wäre, bin aber aufgrund ihrer nichtdramatischen Struktur immer wieder gescheitert. Das Phänomen, warum es bisher nie verfilmt worden ist, hat einfach damit zu tun, dass die Geschichte so dramaturgiefrei ist und sich durch die Live-Erzählung von Neill den Kindern gegenüber immer nur auf die versteinerte Welt verlässt. Also es gibt keine Charaktere. Die hat er auch nicht gebraucht, weil er sie ja vor sich sitzen hatte als seine Zuhörer. Es war eigentlich eine ganz private Geschichte, das heißt, er musste die Figuren nicht charakterisieren, sondern er hat sich ganz auf seine abstrusen Erfindungen, aber immer aufgrund der Versteinerungen, verlassen. Wenn man sich das als Film denkt – ich habe das schon mal vor fünfzehn Jahren versucht – gibt das einen Kurzfilm. Eine ganz fantastische Idee, die jeden Dramaturgen anregt, aber nichts, was einen Film trägt: Da ist keine Dramaturgie, da ist keine Geschichte, da ist keine Emotion. Und deswegen weiß ich auch, dass viele gescheitert sind mit dem Wunsch. Diese große Imagination, diese Geschichte zu einem Abenteuerfilm zu machen, hat nie funktioniert."

Eine Wende brachte die Zusammenarbeit mit Martin Östreicher, der "Die grüne Wolke" ebenfalls zu seinen Lieblingsgeschichten zählt und schon versucht hat, daraus ein Drehbuch zu machen.
Strigel: "Durch das Zusammenwerfen unserer beider Begeisterungen – aber auch Probleme, denn keiner hat's vorher je geschafft, das zu dramatisieren – haben wir ein paar ganz entscheidende Hebel entwickelt, wie die 'grüne Wolke' zu erzählen ist."

Wie schaut die dramatische Struktur jetzt aus?
Strigel: "Der Schlüsselpunkt war, dass wir sagten: Wir müssen uns in Neill rein versetzen und überlegen, wenn er heute diese Geschichte erzählen würde, wie würde er es machen. Wir haben eigentlich aus seinem Geist, aus seinen Ideen, aus seinen Figuren und aus seiner Haltung angefangen, die Geschichte völlig neu zu erzählen. Und haben nachträglich immer wieder geschaut, ob wir näher an die Vorlage gehen können, welche Ideen, welche Figuren wir daraus nehmen können. Es sind tatsächlich nicht viele übrig geblieben, sondern wir haben die Geschichte neu erzählt und trotzdem ist es nicht ein 'frei nach ...', weil wir es so eng im Sinne von Neill versucht haben. Eine Überlegung dabei war auch: Würde man sich nur auf die Fiktion beschränken, würde das niemals funktionieren, weil das so abstruse, abenteuerliche Erfindungen sind, so wilde Wechsel von Schicksal und Plot, dass man dahinter immer den erzählerischen Geist braucht, denjenigen, der das gerade erfindet. Und was wir gemacht haben und sicher auch das Besondere an dem Film sein wird: Man wohnt, während man diesem Film und der Fiktion zuschaut, eigentlich der allmählichen Verfertigung der Geschichte beim Erzählen bei. Die große Spannung liegt also darin, dass ich eine Geschichte höre, das heißt ich sehe die Geschichte als Fiktion und bemerke dabei: Die ist ja noch gar nicht fertig, der weiß ja gar nicht weiter. Das Original heißt 'A Last Man Alive', also sein Ziel, was er sich unterwegs beim Erzählen gesteckt hat, ist, der allerletzte Überlebende zu sein, er rechnet aber nicht mit seinen Zuhörern, die auch alle gerne überleben würden, und dadurch ist die Erzählung in gewisser Weise ein interaktiver Kampf zwischen den Zuhörern und dem Erzähler."

Wie sieht das konkret aus?
Strigel: "Normalerweise, wenn du Geschichten hörst, weißt du, der Erzähler hat das schon in der Hand, da ist eine Dramaturgie und zum Schluss gibt es ein Happy End. Bei unserem Buch merkt man irgendwann, das ist ein Erzähler, der weiß noch gar nicht, wo er hin will, das heißt, man weiß, wo er hin will, aber man kriegt irgendwann mit, dass die Kinder nicht wollen, dass er dahin kommt. Das ist die besondere Spannung. Hinzu kommt, dass wir jedem der erfundenen Charaktere seine Geschichte auf den Leib geschrieben haben, also jedem Kind wird seine Herausforderung erzählt. Das funktioniert wunderbar. Wir wissen ja, da gibt es einen Erzähler, der kennt seine Helden, und indem er seinen Helden irgendein wahnwitziges Abenteuer andichtet, wird klar, dass das für dieses Kind die maßgeschneiderte Herausforderung ist. Nicht lehrhaft, Herausforderung heißt nur, dass ich die richtige Geschichte dem richtigen Menschen erzähle. Es wird also nicht nur äußerlich deftig ein Genre bedient, weil zum Beispiel der eine ein Gangsterfan ist und eine Gangstergeschichte kriegt – er bekommt auch seinen ganz persönlichen Konflikt in der Geschichte. Analog zu Neill, der damals schon gesagt hatte, er wollte den Geschmack seiner Zuhörer deftig bedienen und feststellte, dass deren Sinn 'nach Blut und Donnergrollen' stand und damalige Genres schon geplündert hat, sagten wir uns, wenn wir das heute als Film machen, dann plündern wir beliebte Filmgenres. So haben wir jedem der acht Kinder im Film sozusagen ihre Lieblingsgenre angedichtet, passend zur Charakterisierung, und die Geschichten, die wir ihnen andichten, kommen aus dieser Lieblingswelt. Der Film also bedient sie mit ihren Vorlieben."

Es wird einen Kinospielfilm und eine zwölfteilige Serie geben – wie sieht der Drehplan, die Organisation in diesem Fall aus?
Strigel: "Wir haben zunächst das Drehbuch für den Kinofilm geschrieben, weil wir vermeiden wollten, dass der Kinofilm irgendwie aus der Serie zusammengestückelt, zu einer Collage wird. Der Kinofilm ist also kein Pilotfilm zur Serie ..."
Verhaag: "... der Film ist ein selbständiger Plot, der auch im Kino zwei Jahre Vorlauf hat, und dann erst kommt die Serie im Fernsehen, obwohl der Film natürlich schon neugierig macht."

Werden die beiden Formate gleichzeitig gedreht?
Verhaag: "Wir drehen gleichzeitig in 35mm und Digi Beta, das heißt: Was nur in der Serie kommt, wird nur Digi Beta gedreht, alles, was auch auf Film kommt, wird 35mm gedreht und dann auf Digi Beta gebracht."
Strigel: "Das ist auch das Problem: Man würde für einen Kinofilm niemals den Betrag zusammenkommen. Wir haben sehr viele Spezialeffekte, die ganze versteinerte und verwitternde Menschheit, die ganzen erfundenen Genrewelten, dann A. S. Neills – der bei uns Birnenstiel heißt – abstruse Erfindungen, das sind alles Sachen, die man nirgends naturalistisch drehen kann, das heißt viel im Studio, viel digitales Composing, nicht nur wegen der versteinerten Menschheit, sondern weil alles in Extremsituationen spielt. Das wäre niemals finanzierbar; diesen Film gäbe es als Serie nicht, weil man für eine Serie das Geld nicht bekommt, um den Aufwand herzustellen, und als Kinofilm sowieso nicht. So stand von Anfang an fest: Wir müssen die Gelder aus dem gesamten Kinobereich und die Gelder für die Serie incl. der Weltmarktrechte zusammenlegen. Und dann muss man Kinofilm und Serie gleichzeitig drehen, und das ist in der Logistik natürlich kompliziert, weil der Kinofilm tatsächlich in vielen Details, wenn auch an denselben Motiven, die Geschichte anders erzählt als die Serie."

Wie ist der jetzige Stand der Produktion?
Strigel: "Wir sind in der Produktionsvorbereitung, Locationsuche, Casting sowie Special Effect- und Trickvorbereitung. Besonders zu erwähnen ist, dass wir Tyron Montgomery, der den Oscar für 'Quest' erhielt, als Special Effect Supervisor gewinnen konnten, übrigens ein ganz alter 'Grüne-Wolke'-Fan, der sehr gerne an diesem Projekt mitarbeitet und mit ganz tollen Ideen die Transparenz der Effekte bedient. Die Firma 'Das Werk' hat ein großes Interesse am Projekt, weil es sowohl für Ausstattungs- als auch für Special Effect-Leute ein gigantischer Spielplatz ist, die sind auch als Koproduzenten mit an Bord. "

Wie verläuft das Casting?
Strigel: "Das von uns organisierte Casting der Kinder läuft sehr aufwändig seit Sommer 98, zwei Frauen machten richtig Straßencasting und Eventcasting, waren an den Orten, wo Kinder auch hingehen und brachten insgesamt über 300 Kinder, schon nach unseren Charakteren ausgewählte, und wir haben ungefähr mit ca. 80 Kindern ausführliche Videoproben gemacht, haben also bestimmte Szenen, die ganz konkret vorkommen werden im Film, schon mit denen probiert, jeweils mit acht Kindern ein dreistündiges Programm, und aus denen wiederum haben sich im Augenblick 12, 13 herauskristallisiert, die wir spannend finden und die wir sehr gerne in dem Film hätten, wobei es jedoch nur acht Kinderrollen gibt, für drei Mädchen und fünf Jungen."

Wann beginnen die Dreharbeiten?
Verhaag: "Ende März 1999, mit Beginn der Osterferien. Die Drehzeit wird bis Mitte November dauern.

Nachdem mit der "Grünen Wolke" an die berühmte Summerhill-Schule erinnert wird – die ja in den 60er-, 70er-Jahren als Modell für selbst bestimmtes Lernen galt – wäre es auch interessant, gleichzeitig über den jetzigen Stand dieser Einrichtung etwas zu erzählen.
Verhaag: "Es ist geplant, dass wir zwei Dokumentationen parallel machen, und zwar eine als Making of und eine zweite direkt über Summerhill."
Strigel: "Die unterschiedlichen Interessen sind auch das Besondere an dem Projekt. Für Kinder erzählen wir eine ganz deftige Abenteuergeschichte, wo Action, Science Fiction und auch Gewaltaspekte nicht ausgelassen werden. Wenn sie aber mit Erwachsenen ins Kino gehen, kommen auch diese auf ihre Kosten, weil die Situationskomik und der skurrile schwarze Humor vom Neill sich zum Teil nur Erwachsenen erschließt. Und dann gibt's natürlich die Gruppe von 'Grüne Wolke'-Fans, Summerhill- und Neill-Fans, die kommen wieder auf ganz andere Weise auf ihre Kosten bei dem Film. Deswegen vermeiden wir auch den Begriff Kinderfilm. Wir nennen es jetzt Abenteuerfilm, weil er tatsächlich großes Abenteuer von den Genres her bietet, und hoffen auf einen ganz breiten Effekt. Denn ein Kinderfilm, in dem sich Erwachsene langweilen, wenn sie mit ihren Kindern drinsitzen, der wird's im Kino viel schwerer haben, als ein Kinderfilm, wo die Erwachsenen sagen, den möchte ich sowieso sehen, komm' mit. Oder die Kinder sagen, ich will den sehen und die Erwachsenen gehen gerne mit. Und da glaube ich, haben wir ein breites Interesse."

Zum Begriff Kinderfilm – Familienfilm – Abenteuerfilm ... Wie man diese Begriffe öffnet, damit solche Filme ans Publikum kommen, wird immer wieder diskutiert ...
Strigel: "Der Begriff Abenteuerfilm ist eigentlich richtig in diesem Fall, das ist keine Verkleidung, sondern das ist der Kern. Neill wollte mit seiner Erzählung 'Die grüne Wolke' nichts anderes als unterhalten, erst mal – aber dann war's natürlich Neill, und der hat einiges im Kopf und ist kein Trivialschreiber. Neill kann nicht anders, wenn er seine Kinder unterhalten will, als dass er sie gleichzeitig provoziert, rauslockt, konfrontiert, aber das ist sozusagen eine Beigabe. Es ist also keine Geschichte, wo Kinder was lernen sollen, er will keine Lektion erteilen, er will sie nichts lehren, es sind keine pädagogischen Hintergedanken dabei, sondern Neill wollte unterhalten. Nun ist er aber ein großer Geist gewesen, und wenn ein solcher unterhalten will, dann kommt eben was Zusätzliches dabei raus. Also Unterhaltung mit Qualität."

Interview: Christel Strobel / Hans Strobel

 

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