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Ausgabe 58-2/1994

BROT UND POESIE

NAN VA SHER

Produktion: House of Art and Literature for Children and Young Adults Tehran, Iran 1993 – Regie und Buch: Kiumars Poorahmad, nach "Majid's Stories" von Houshang Moradi-Kermani – Kamera: Parviz Malekzadeh – Schnitt: Kiumars Poorahmad – Darsteller: Mehdi Bagherbeigi (Majid), Parvindokht Yazdanian, Jamshid Sadri, Mohsen Maleki u. a. – Länge: 91 Min. – Farbe – Weltvertrieb: Farabi Cinema Foundation, Tehran, Iran, Tel. (...) 678156 – Altersempfehlung: ab 10 J.

Aus der umfangreichen iranischen Filmproduktion für ein jüngeres Publikum, mit der wir zuerst auf Filmfestivals Bekanntschaft machten – inzwischen ist eine Auswahl auch bei uns im Verleih, z. B. "Bashu", "Wo ist das Haus meines Freundes", "Der Läufer" – wurde beim diesjährigen Kinderfilmfest Berlin wieder ein sehenswertes Beispiel vorgestellt.

Schauplatz dieses Films ist Isfahan, eine Stadt mit einer reichen Kulturgeschichte. Hier lebt und arbeitet der Junge Majid. Seine Tätigkeit besteht im täglichen Ausfahren des Fladenbrotes für eine Bäckerei, seine Berufung aber sieht er in der Literatur. Nicht nur, dass er liest – im Moment hat es ihm Victor Hugo's Roman "Die Elenden" angetan –, er selbst hat auch einige Gedichte verfasst und an eine Literaturzeitschrift geschickt, auf deren Erscheinen er ungeduldig wartet. Da er das Buch, was ihn so fesselt, in der Bücherei zwar ausleihen, aber nur dort lesen und es nicht mit nach Hause nehmen darf, verfällt Majid auf eine List: Heimlich tauscht er "Die Elenden" gegen ein Buch seines ebenfalls literarisch ambitionierten Schwagers aus, um nun die Geschichte ohne Unterbrechungen lesen zu können und ohne Angst, dass es am nächsten Tag vielleicht jemand anders ausgeliehen hat. Majids Pech allerdings ist, dass sich gerade in jenem Buch aus dem Regal des Schwagers ein Scheck über einen stattlichen Betrag befand. Mit dem heimlichen Austausch zieht er nun nicht nur den Zorn der Familie auf sich, sondern es beginnt eine regelrechte Verfolgungsjagd, um wieder in den Besitz des "Scheck-Buches" zu kommen: von der Bücherei mitten hinein in die Dreharbeiten zu einem obskuren Historienfilm und weiter in die Wohnung des Regisseurs, dessen Tochter das Buch ausgeliehen hat. Ausgerechnet jetzt ist Majids Gedicht in der Literaturzeitschrift veröffentlicht worden – aber niemand nimmt es zur Kenntnis. Im Gegenteil, überall hat er nur Ärger, weil er in höheren Sphären schwebt und im Alltag oft nachlässig ist: "Ich weiß nicht, ob ein Dichter ein Bäcker sein kann, oder ein Bäcker ein Dichter." Schließlich erfährt Majid aber doch noch Anerkennung. Der Vater der Bibliothekarin, ein alter Künstler, der geehrt wird, nimmt ihn mit in den Club der Dichter und stellt ihn schlicht mit den Worten vor: "Ich habe wenig zu sagen, während es junge Menschen gibt, die Aufmerksamkeit verdienen."

"Brot und Poesie" ist ein symbolischer Titel: Brot als Symbol für den Alltag, für das reale Leben, und Poesie für Kultur, für die Künste insgesamt, wobei die Dichtung – in schriftlicher und mündlicher Form – im Iran nicht nur eine große Tradition hat, sondern im Leben der Menschen in Stadt und Land eine viel größere Rolle spielt als hierzulande. Der Film führt in diese Welt, erzählt von einem heranwachsenden jungen Menschen, der in bescheidenen Verhältnissen bei seiner Großmutter lebt und sich mit seiner Leseleidenschaft allerhand Schwierigkeiten einhandelt. Hierin liegt auch ein Anknüpfungspunkt für hiesige Zuschauer, denn Situationen wie Majid sie erlebt, komisch und turbulent, sind durchaus nachzuvollziehen. Nebenbei wird auch wieder ein authentisches Bild vom Leben in der Stadt, in den Gassen und Hinterhöfen, vermittelt. Aus der Perspektive des Jungen erfährt man zudem, dass es Kinder nicht so leicht haben in einer von Tradition und Ehrfurcht geprägten Gesellschaft. Majid lässt sich nicht beirren in seinen Ambitionen, kann zwar manchmal Roman und Realität nicht ganz auseinander halten, geht aber zielstrebig seinen Weg. Manches, insbesondere die Schlussszenen im Club der Dichter, mag für kleine Zuschauer nicht ganz durchschaubar sein. Insgesamt aber gehört "Brot und Poesie" zu der Reihe iranischer Filme, die aufrichtig und unterhaltsam vom Leben junger Leute dort erzählen.

Christel Strobel

 

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Ausgabe 58-2/1994

 

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