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Ausgabe 58-2/1994

GILBERT GRAPE – IRGENDWO IN IOWA

WHAT'S EATING GILBERT GRAPE?

Produktion: Paramount, USA 1993 – Regie: Lasse Hallström – Buch: Peter Hadges, nach seinem gleichnamigen Roman – Kamera: Sven Nykvist – Schnitt: Andrew Mondshein – Musik: Alan Parker, Bjorn Isfalt – Darsteller: Johnny Depp (Gilbert Grape), Juliette Lewis (Becky), Leonardo Di Caprio (Arnie Grape), Mary Steenburgen (Betty Carver), Darlene Cates (Momma) – Länge: 117 Min. – Farbe – Verleih: Buena Vista (35mm) – Altersempfehlung: ab 14 J.

Die "Oscar"-Nominierung 1987 für "Mein Leben als Hund" in der Sparte "Bester Regisseur" öffnete dem Schweden Lasse Hallström die Tür nach Hollywood, die er mit seiner gegen den Strich des US-Familienfilms inszenierten Tragikomödie "Ein charmantes Ekel" (1991) auch kräftig eintrat. Aber so ganz fühlte sich Hallström noch nicht heimisch in der US-Gesellschaft, was man dem an der Kasse nicht sehr erfolgreichen Film auch ansah. Vielleicht hat er sich deshalb mit seiner zweiten US-Produktion wieder einem überschaubareren, geschlossenen gesellschaftlichen Umfeld zugewandt, das ihm die Möglichkeit gibt, seine Stärke, die Beobachtung von Personen, auszuspielen und einen europäischen "Touch" in die Inszenierung einfließen zu lassen.

Gilbert Grape ist ein junger Mann, der in dem 1000-Seelen-Dorf Endora, irgendwo in Iowa, lebt, einem Ort, wo "das Leben ist wie ein Tanz ohne Musik". Seinen Unterhalt verdient er sich als Verkäufer in einem Tante-Emma-Laden, und zu Hause ersetzt er den früh verlorenen Vater. Seit dessen Selbstmord hat seine Mutter das Haus nicht mehr verlassen, sich respektable 500 Pfund angefressen, die jetzt sogar die Grundmauern des Hauses zum Wanken bringen. Gilberts ältere Schwester Amy hat gerade ihren Job in einem Restaurant verloren, und das Nesthäkchen Ellen steckt mitten in der Pubertät, interessiert sich mehr für ihre gerade von der Spange befreiten Zähne als für die Familienidylle. Und die ist nicht nur durch die vor dem Fernseher lebende und schlafende Mutter belastet, sondern auch durch den geistig zurückgebliebenen Arnie, um den sich vor allem Gilbert liebevoll kümmert. Arnie ist es auch, der ab und zu das verschlafene Örtchen mit seinen waghalsigen Ausflügen auf den Wasserturm in Aufruhr versetzt. Ansonsten sorgt nur der neue Supermarkt mit seinem Hummer-Becken für Gesprächsstoff. Gilbert hat sich, mehr aus Langeweile denn aus Zuneigung, auf eine Liason mit Betty, der Frau eines Versicherungsvertreters, eingelassen, die aber zerbricht, als eines Tages ein junges Mädchen in Endora auftaucht: Becky und ihre Großmutter sind mit ihrem Wohnwagen eigentlich nur auf der Durchreise. Ein Motorschaden zwingt sie zu einem Aufenthalt, und während dieser Zeit bahnt sich zwischen Becky und Gilbert eine zarte Beziehung an. Im Ort überschlagen sich derweil die Ereignisse: Bettys Mann ertrinkt in einem Planschbecken und sie verlässt Endora, Arnie wird von der Polizei in Gewahrsam genommen, was seine Mutter erstmals aus ihrer Lethargie herausreißt und ins Rathaus treibt, und Gilberts Freund Tucker beglückt seine Mitmenschen mit der Eröffnung einer Hamburger-Bude.

Gilbert, der sich immer mehr zu Becky hingezogen fühlt, merkt plötzlich, dass es noch eine andere Welt außer seiner eingefahrenen gibt. Er fängt an, seine Hausmanns-Pflichten zu vernachlässigen und am Abend vor Arnies 18. Geburtstag kommt es zum Eklat: Erstmals schlägt er den wieder einmal nervenden Bruder, worauf dieser zu Becky flüchtet. Die behutsame Art, mit der sie Arnies Verstörtheit auffängt, bindet den die Szene aus der Ferne verfolgenden Gilbert noch stärker an das Mädchen. Als sie am nächsten Tag kommt, um sich zu verabschieden, gelingt es ihm, sie seiner Mutter, die seit ihrer Fresssucht keinen Fremden ins Haus gelassen hat, vorzustellen. Kurz nach Beckys Abreise schleppt "Momma" sich zum Sterben in den ersten Stock, und die Kinder verbrennen die Tote samt Haus, um den unwürdigen "Abtransport" mittels eines Hebekrans zu umgehen. Ein Jahr später warten Gilbert und Arnie wieder auf die durchziehende Camper-Karawane, in der sie auch Becky vermuten.

Endora, das ist so etwas wie ein US-Ableger von Bullerbü, jener schwedischen Kleinstadt, in der zwei von Lasse Hallströms Filmen ("Wir Kinder aus Bullerbü", 1986, "Neues von uns Kindern aus Bullerbü", 1987) spielen, und Gilbert könnte durchaus der große (amerikanische) Bruder des zwölfjährigen Ingemar aus "Mein Leben als Hund" (1985) sein, der ebenso vaterlos mit einer kranken Mutter aufwächst und versucht, sich seiner Stärken und Schwächen bewusst zu werden. Gilbert hat das Leben auch noch nicht entdeckt, sieht noch in Endora und seiner Familie den Mittelpunkt seines Seins – bis die Liebe ihm die Augen öffnet. Nun kann er auch an sich denken. Ein modernes Märchen also, eingebettet in einen realistischen Rahmen, der nur leicht überhöht ist durch all die skurrilen, aber liebevoll gezeichneten Figuren, die diesen kleinen Kosmos bevölkern.

Dabei gelingt es Hallström ohne äußerliche Dramatisierung und aufgesetzte Sentimentalität, Spannung und Anteilnahme für seine Geschichten und Figuren aufzubauen, die sich ganz aus dem einfühlsamen Eindringen in die Charaktere ergibt. So betulich wie das Leben in Endora fließt die Geschichte dahin, kongenial unterstützt von der ruhigen Montage und den klaren, ganz auf die Personen konzentrierten Bildern Sven Nykvists. Nicht einmal nützen Regie und Kamera (und die sehr zurückhaltend eingesetzte Musik) anrührende Momente aus, um auf die Tränendrüse zu drücken. Wie genial Hallström es versteht, emotional heikle Szenen aufzulösen, zeigt der Tod der Mutter: Aus halbnaher Position beobachtet er das ungläubige Erstaunen Arnies, der seine tote "Momma" entdeckt, um dann seinen ganzen, herausbrechenden Schmerz aus der Distanz einer Totalen aufzunehmen, was der Szene eine geradezu metaphysische Kraft verleiht. Genauso leise, aber wirksam versteht es Hallström, mit dem Humor umzugehen, den er in all seinen Facetten zeigt.

Das ausgezeichnete Darsteller-Ensemble, das bis in die kleinste Nebenrolle hinein prägnant besetzt ist, lässt den Film wie das Werk einer großen, das Kino liebenden Familie wirken, die ihr ganzes Herzblut in diese Geschichte eingebracht hat. Ohne die Leistung der anderen schmälern zu wollen, sei das berührende Spiel Leonardo Di Caprios erwähnt, der die Interpretation des Arnie zu einem eindrucksvollen Plädoyer für den "natürlichen" Umgang mit Behinderten macht, von deren Fähigkeiten, Emotionen herauszulassen und Liebe zu erwidern so mancher "Normale" noch lernen kann. Der Umgang der Grapes untereinander zeugt, trotz aller kleiner Zwistigkeiten, letztlich von einer tiefen Zuneigung untereinander und erreicht im Umgang mit dem Tod der Mutter eine Dimension der Menschlichkeit, die dem Film fast spirituelle Qualitäten verleiht.

Rolf-Rüdiger Hamacher

 

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Ausgabe 58-2/1994

 

Filmbesprechungen

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Interviews

Bykov, Rolan - "Man muss erst ein bisschen investieren, um dann viel zurückzubekommen"| Kishore Bir, Apurva - "Ich habe mit meinem Film auch über einen Teil meines Lebens reflektiert"| Vilsmaier, Joseph - Die Entscheidung für den Filmschluss fiel in den Previews – nicht am Schneidetisch|


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