Zum Inhalt springen

Ausgabe 58-2/1994

"Ich habe mit meinem Film auch über einen Teil meines Lebens reflektiert"

Gespräch mit Apurva Kishore Bir, Regisseur des indischen Films "Der kleine Poet" ("Lavanya Preeti")

(Interview zum Film DER KLEINE POET)

Das im Folgenden wiedergegebene Interview entstand beim 17. Kinderfilmfest in Berlin, wo "Lavanya Preeti" im Wettbewerb lief und A. K. Bir zu Gast war.

KJK: Könnten Sie kurz die Handlung Ihres Films 'Lavanya Preeti' erzählen?
Apurva Kishore Bir: "Der Film spielt in Orissa, meinem Heimatstaat. Orissa ist eine ländliche Gegend, die Menschen dort leben sehr einfach. Es ist die Geschichte von Gopal, einem zehnjährigen Jungen, der schlecht in der Schule ist und deshalb von seinem Vater und seinem Lehrer für dumm gehalten wird. Dabei ist Gopal ein sehr sensibler Junge, er liebt die Natur und schreibt kleine, einfache Gedichte über die Schönheit der Dinge, die ihn umgeben. Der Vater ist ein sehr strenger, harter Mensch, er schimpft und schlägt Gopal beim geringsten Anlass. Der Junge hat nur zu seiner Großmutter Vertrauen. Sie erzählt ihm von einem Wald in der Nähe des Dorfes. Sie sagt, der König dieses Waldes sei ein weißes Kaninchen, das sich aber nur einem Prinzen zeigen würde. Gopal beginnt, in dem Wald umherzustreifen und versucht, sich wie ein Prinz zu benehmen. Eines Tages wohnt Gopal auf dem Dorfplatz einer Jatra-Aufführung bei. Jatra ist eine alte Form des indischen Theaters, das in kleinen Dörfern gespielt wird. Der Text wird gesungen und Kinder spielen dazu auf der Bühne. Gopal sieht die Geschichte von Kedar und Gauri, in der – ähnlich wie bei Romeo und Julia – zwei junge Liebende füreinander in den Tod gehen. Diese Geschichte beschäftigt Gopal so sehr, dass er sich fragt, ob es auch in seinem Leben eine Gauri geben wird. Als Paki, ein junges Mädchen, in seine Klasse kommt, ist Gopal sich sicher, dass sie seine Gauri ist. Eine innige Freundschaft verbindet die beiden und dadurch gelingt es Gopal schließlich, den König des Waldes – das weiße Kaninchen – zu sehen."

Paki verschwindet am Schluss. Inwiefern ist das für die Geschichte wichtig?
"Paki ist eine transitorische Figur, die Gopals Phantasie und Veränderung symbolisiert. Älter werden bedeutet sich wandeln, sich häuten. Am Ende des Films läuft Gopal nackt am Strand entlang, bespritzt sich mit Wasser und ruft: Ich bin ein Prinz. Er wäscht seine alten Erfahrungen ab und ist wie ein Neugeborener. Es ist eine Art Ekstase, eine Art transitorischer Tod, aus dem eine neue Erfahrung, eine neue Dimension des Lebens erwächst. Diesen transitorischen Tod symbolisiert das Verschwinden Pakis."

Was für einen Stellenwert hat das Jatra-Theater in der indischen Kultur?
"In den ländlichen Gegenden war es früher die einzige Art von kultureller Darbietung. Jetzt hat es nicht mehr so eine Wichtigkeit. Auch die Stücke haben sich verändert. Die alten Geschichten werden nicht mehr so häufig gespielt, das Jatra ist mehr und mehr vom Fernsehen beeinflusst. Die Lieder und Tänze sind sehr künstlich geworden und auch die Personen sind ziemlich unrealistisch. Es war schwierig, die ursprüngliche Form des Jatra-Theaters in meinem Film zu zeigen. Ich musste die alten Meister bitten, das Stück wieder zu erarbeiten. Auch die Lieder, die darin vorkommen, werden heutzutage nicht mehr gesungen, sie mussten extra für den Film gelernt werden. Ich habe der Truppe drei Monate Zeit gegeben, um das Stück zu proben."

Halten Sie die Schwierigkeiten, die Gopal und sein Vater miteinander haben, typisch für eine Vater-Sohn-Beziehung?
"Für Indien bestimmt. Vor allem auf dem Land ist die Beziehung zwischen Vater und Sohn sehr problematisch. Ein nicht sehr gebildeter und autoritärer Vater verhält sich oft in einer Weise, die die Freiheit des Kindes einschränkt und seine Kreativität erstickt. Auch mein Vater war schrecklich autoritär. Er war Physik-Lehrer und es war ihm sehr wichtig, dass ich gut in der Schule bin. Irgendwann wurde ich widerspenstig, weil immer von mir verlangt wurde, dass ich bestimmte Dinge lerne, die mich nicht interessierten. Dabei kann man so vieles erforschen: die Natur, die eigene Schwester, Vater und Mutter, oder zum Beispiel das Sonnenlicht – ich schenke dem Sonnenlicht viel Aufmerksamkeit – wie es über einen bestimmten Gegenstand kriecht und was das für ein Gefühl auslöst. Ich sehe es, fühle es, beginne mein Inneres mit dem Licht in Einklang zu bringen und dann plötzlich verändert sich das Licht ... Das sind Dinge, die mir in meiner Kindheit gefehlt haben, weil sich mir immerzu der Gedanke aufdrängte: du musst lernen, lernen, lernen. Mit dieser Erinnerung im Hinterkopf machte ich den Film. Ich habe damit auch über einen Teil meines Lebens reflektiert."

Sie haben ausschließlich mit Laienschauspielern gearbeitet. Warum?
"Ich entschied mich für Laien, weil die Art, in der professionelle Schauspieler Gefühle ausdrücken, mir meistens zu konditioniert ist. Sie haben gelernt, Gefühle zu ordnen, einzuordnen, zu organisieren. Man hat manchmal das Gefühl, einen Hebel zu ziehen, der einen bestimmten Gefühlsausdruck auslöst. Ich war auf der Suche nach etwas viel Subtilerem, Spontanerem.
Ich werde Ihnen erzählen, wie ich mit Tarashankar, dem Jungen, der die Rolle von Gopal spielt, gearbeitet habe. Auch er hatte keinerlei Schauspielerfahrung, weder beim Film noch beim Theater. Beim Casting erkundigte ich mich nach seinen Hobbys. So erfuhr ich, dass er Tabla spielt – das ist ein wichtiges traditionelles indisches Musikinstrument – und das war für mich das Zeichen, dass er der Richtige für die Rolle ist. Ich fragte ihn, ob er sich zutraut, Gopal zu verkörpern. Seine Antwort war: 'Wenn Sie mich auswählen und mich anleiten, werde ich es können.' So viel Selbstvertrauen hatte er! Nur seine Eltern hatten Zweifel, ob ihr Junge eine so große Rolle würde spielen können. Doch am Ende ist es mir gelungen, sie zu überzeugen. Als ich Tarashankar sagte, dass das, was ich von ihm erwarte, mehr mit Lernen als mit Film zu tun hat, war er erst sehr enttäuscht. Er meinte: 'Wie, Sie sagen, ich soll in einem Film mitspielen und dann reden Sie vom Lernen!' Ich erklärte ihm, dass es für die Rolle wichtig ist, dass er über sich selbst nachdenkt. Ich gab ihm einige Übungen auf, die er jeden Tag machen sollte."

Was waren das für Übungen?
"Eine Art Meditation. Er sollte sich auf seine Sinne konzentrieren, darauf achten, was er hört, riecht, fühlt. Wie sich das auf seine Gedanken auswirkt. Außerdem habe ich ihm Übungen für den Nacken und die Augen gezeigt und andere, die die Beweglichkeit und Reaktionsfähigkeit verbessern. Nachdem ich ein paar Tage mit ihm gearbeitet hatte, bin ich nach Bombay gefahren. Ich bat ihn, diese Übungen täglich zu machen. Als ich nach einem Monat zurückgekommen bin, hatte er schon viel gelernt. Zum Beispiel war sein Gedächtnis besser geworden. Man braucht ein gutes Gedächtnis für solch eine Rolle, nicht nur um den Text zu lernen. Man muss sich auch daran erinnern, was in vorangegangenen Szenen passiert ist und was in den folgenden passieren wird. Man muss eine Art Kontinuität im Ausdruck der Gefühle bewahren."

Sind Ihre Themen, die Naturverbundenheit, das Streben nach Harmonie, der Respekt vor der kindlichen Kreativität, für Sie persönlich mit einer Religion oder Religiosität verbunden?
"Jeder Mensch hat seine eigene Art, sich in der Welt zu bewegen. Deshalb ist es so wichtig, dass man eine persönliche Disziplin findet, bestimmte Tätigkeiten, die im Einklang mit dem eigenen natürlichen Instinkt und Verhalten ist, mit der Art, auf Situationen zu reagieren. In dieser Hinsicht habe ich ein besonderes religiöses Denken. Ich muss zum Beispiel jeden Morgen nach dem Aufstehen etwas schreiben. Das ist meine Religion. Sehen Sie, das passiert jeden Tag, das ganze Leben lang: Im Laufe des Tages verliert man sich, um zu lernen. Lernen kann man nur, indem man das 'Ich', die eigene Identität, zu einem gewissen Grad aufgibt, sie nach außen schickt. Im Schlaf kommt man wieder zu sich selbst und morgens, wenn man aufsteht, muss man die Dinge, die man aufgenommen hat, sortieren, das Unwichtige vom Wesentlichen trennen, sie in eine disziplinierte, konzentrierte Form bringen. So kommt man zu neuen Ideen, zu einer neuen Sichtweise auf Welt."

Mit A.K. Bir sprach Natascha Noack

 

Permalink für Verlinkungen zu dieser Seite Dauerhafter, direkter Link zu diesem Beitrag


Ausgabe 58-2/1994

 

Filmbesprechungen

BIS MORGEN, MARIO| BROT UND POESIE| CHARLIE & LOUISE – DAS DOPPELTE LOTTCHEN| DES KAISERS NEUE KLEIDER| DER GEHEIME GARTEN| GILBERT GRAPE – IRGENDWO IN IOWA| DER GOLDENE BALL| KAHLSCHLAG| KALLE UND DIE ENGEL| KARAKUM| DER KLEINE POET| DIE KLEINEN DELPHINE| LOTTA AUS DER KRACHMACHERSTRASSE| MATILDA BELL| PUMUCKL UND DER BLAUE KLABAUTER| SANDRA, C'EST LA VIE| DER SCHWÄTZER| WELTMEISTER|

Interviews

Bykov, Rolan - "Man muss erst ein bisschen investieren, um dann viel zurückzubekommen"| Kishore Bir, Apurva - "Ich habe mit meinem Film auch über einen Teil meines Lebens reflektiert"| Vilsmaier, Joseph - Die Entscheidung für den Filmschluss fiel in den Previews – nicht am Schneidetisch|


KJK-Ausgabe 58/1994

 

Anzeigen:

Einzelne Ausgaben:

Filmtitel nach Alphabet:

Zusatzmaterialien:

Volltext-Suche:

 

 


Sonderausgaben bestellen!