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Ausgabe 88-4/2001

"Ragazzi, wir müssen ein Opfer bringen!"

Gespräch mit Antonio Frazzi, Co-Regisseur des italienischen Spielfilms "Il cielo cade" (Lobende Erwähnung auf dem Kinderfilmfest der Berlinale 2001)

(Interview zum Film DER HIMMEL FÄLLT)

Im Sommer 1944 kommen die achtjährige Penny und deren kleine Schwester Baby nach dem Tod ihres Vaters zu Onkel Wilhelm und dessen Frau, die in der Toskana leben. Die Mädchen gewöhnen sich bald an ihr neues Zuhause in der idyllischen Umgebung, zumal sie Fürsorge und Liebe erfahren. Dennoch spürt Penny eine Bedrohung, die konkret wird durch das Wissen, dass ihr jüdischer Onkel Wilhelm Einstein in Gefahr ist. Als deutsche Soldaten die Villa besetzen, versuchen die Mädchen ihren Onkel vor den Nazis zu schützen. Die kennen keine Gnade und letztlich überleben nur Penny und Baby die Schreckensherrschaft. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Lorenza Mazzetti.

KJK: Sie haben wieder zusammen mit Ihrem Zwillingsbruder Andrea Regie geführt. Können Sie sich einfach nicht trennen?
Antonio Frazzi: (lacht) "Nein, nein. Aber wir haben immer zusammen gearbeitet. Nur während und nach der Pubertät sind wir verschiedene Wege gegangen. Wir hatten ganz verschiedene Freunde, Andrea hat Philosophie und ich habe Literatur studiert. Beim Studententheater fanden wir fast zufällig wieder zusammen und dort haben wir unsere ersten gemeinsamen Inszenierungen erprobt. Dabei ist es geblieben. Erst sind wir zu Giorgio Strehler an das berühmte Teatro Piccolo in Mailand gegangen, dann haben wir zusammen für Film und Fernsehen gearbeitet."

Wie muss man sich das konkret vorstellen?
"Andrea und ich haben eine konfliktreiche, dynamische und sehr produktive Beziehung. Wenn er eine gute Idee hat, will ich sofort eine bessere haben! Das geht so seit unserer Kindheit und wir haben inzwischen gelernt, damit umzugehen."

Wie war das beim Casting?
"Beim Casting waren mein Bruder und ich ausnahmsweise sofort einer Meinung."

Wie haben Sie Penny und Baby gefunden?
"Baby hatten wir fast sofort, ihre Ausstrahlung einer 'wachen Hellen' hat uns beeindruckt. Bei Penny dauerte es lange, bis zum letzten Tag des Castings. Wir haben ungefähr 1.000 Mädchen getestet, indem wir sie jene Szene spielen ließen, in der Penny erklärt: 'Wir müssen ein Opfer bringen!' Und Veronica Niccolai, die dann die Rolle bekam, fiel uns durch ihre Spontaneität auf. Als wir 'action' sagten, kam sie direkt auf meinen Bruder und mich zugerannt und rief atemlos 'Ragazzi, wir müssen ein Opfer bringen!' Zu uns Weißhaarigen Ragazzi, also Jungs oder Leute! Das heißt, sie konnte sich die Situation sofort vorstellen und sie war ja auch wunderbar. Wenn ich nur an die Szene denke, in der sie so herzzerreißend weint! Ausgerechnet das mussten wir ganz oft wiederholen, aber Penny war jedes Mal gleich überzeugend – so als hätte sie einen Wasserhahn, den sie nach Bedarf auf- und zudrehen konnte. Es ist ein riesengroßes Wunder, eine Schauspielerin wie dieses Kind auf dem Set zu haben. Aber auch eine Riesen-Anstrengung, weil wir ja den Rahmen, die Spiel-Atmosphäre schaffen müssen, damit sie und die anderen Kinder ihre Spontaneität entwickeln können. Sie tobten manchmal so rum, dass z. B. die Darstellerin der Haushälterin Rosa sich beschwerte, sie könne sich einfach nicht konzentrieren. Kinder spenden viel Energie, aber sie kosten auch viel Kraft, fordern einen immens. Am Ende eines solchen Tages war ich fix und fertig und fiel nur so ins Bett."

Hatte Veronica schon vorher gespielt?
"Nein, Penny und Baby waren das erste Mal vor der Kamera – inzwischen haben wir in Kanada einen weiteren Film mit Veronica gedreht. Sie ist ein ungewöhnlich intelligentes, sehr lebendiges und aufgewecktes Mädchen. Ihre Eltern haben ein Café in einem kleinen Ort bei Florenz. Sie hat eine ältere Schwester, ist also die kleine Nachzüglerin, die viel Aufmerksamkeit bekommt – und mir scheint, sie kommandiert die ganze Familie."

Wie sind Sie zu dem Buch von Lorenza Mazzetti gekommen, welche Affinität haben Sie zu dem Stoff?
"Ich habe Lorenzas 'Il cielo cade' gleich nach seinem ersten Erscheinen Anfang der 60er-Jahre gelesen und sofort an eine Verfilmung gedacht. Aber es ist dann doch erst mal in der Schublade gelandet. Als mir die bekannte Drehbuchautorin Suso Cecchi d'Amico 1999 dann den Stoff vorschlug, erinnerte ich mich an das Buch in der Schublade, habe es sofort wieder gelesen und war tief beeindruckt. Es beschreibt ja, was bei uns 1944 passiert ist, kurz bevor Andrea und ich geboren wurden. Das sind unsere Wurzeln – und es ist wichtig, unsere Geschichte zu kennen, auch damit wir nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen. Diese Geschichte aus der Perspektive eines neunjährigen Mädchens, das einen seelischen Knacks erfährt, enthält ja die Botschaft für uns Erwachsene, eine Welt zu errichten, die Kinder vor einem solchen Trauma bewahrt. Auch heute noch müssen viele Kinder auf der Welt genau das Gleiche erleben, in Ruanda z. B., im Kosovo, in Eritrea, Äthiopien ..."

Haben Sie die Rolle von Wilhelm Einstein mit Jeroen Krabbé und dessen Frau mit Isabella Rosselini besetzt, weil Sie ihn und Isabella Rosselini als jüdisches Ehepaar in "Left Luggage" gesehen haben?
"Nein, das haben wir erst danach erfahren. In amerikanischen Filmen ist Jeroen stets der Anti-Held, bei uns ist es umgekehrt – auch Isabella Rosselini haben wir gegen ihr Image besetzt. Es ist die Faulheit der Regisseure, Schauspieler immer nach Typ zu besetzen. Aber für die Lebendigkeit eines Filmes ist es wichtig, diese Schemen zu durchbrechen.

Haben Sie ein besonderes Verhältnis zu Türen?
Antonio Frazzi lacht: "Sie haben Recht, in dem Film werden immer wieder Türen aufgestoßen oder zugeknallt. Aber so ist es doch auch im Leben, da gibt es Türen, die sich öffnen, schließen und zugeschlagen werden – so jedenfalls habe ich das immer wahrgenommen. Es ist natürlich auch eine Möglichkeit, Dynamik und Energie darzustellen."

Wie haben Sie sich der Atmosphäre des gebildeten Großbürgertums der 40er-Jahre genähert, einer für heutige Kinder sehr fremden Welt?
"Wir haben uns ein bisschen an der Atmosphäre bei uns zu Hause orientiert, einer Familie von Musikern. Mein Onkel z. B. war Direktor an der bedeutenden Musik-Akademie in Siena, wo er auch einen Lehrstuhl für Komposition innehatte. Dort lehrten Casals, Fournier, Michelangelo Benedetti, Corot und Segovia – und die gingen bei uns zu Hause ein und aus."

War "Die Nacht von San Lorenzo" der Brüder Taviani ein filmisches Vorbild?
"Ein phantastischer Film und schwer zu sagen, wir sind von ihm nicht beeinflusst worden, weil er einfach vorher da war. Er ist in uns – aber natürlich haben uns auch die Landschaftsbilder von da Vinci beeinflusst – die Toskana ist ja genau diese Landschaft, in der unsere Geschichte spielt."

Sie haben mehrfach betont, dass "Il cielo cade" ein Kinderfilm sei ...
"Ja, ein Film mit Kindern für Kinder, geschrieben von einer Frau und gedreht von Regisseuren, die irgendwie selbst auch noch Kinder sind. Wir Erwachsenen gehen ja meist schlecht um mit dem Kind in uns selbst – dabei ist unser Erinnerungs-Depot und unsere Kreativität in der Kindheit begründet. Und weil Gedächtnis und Kreativität so wichtig sind für unsere Zukunft, muss man sich bemühen, einen Spalt offen zu halten zu dieser Kammer in unserer Seele. Natürlich ist es ein emotional schwieriger Stoff, weshalb wir die Geschichte auch ganz linear und so einfach wie möglich erzählen mussten. Der Zuschauer sollte sie ja aus der gleichen Perspektive betrachten wie die Kinder damals. Deshalb haben wir den historischen Hintergrund mit Absicht als Hintergrund belassen. Ein neunjähriges Kind hört zwar, was im Radio gesagt wird, aber es versteht nicht, was da passiert. Und dann bricht die Wirklichkeit gewalttätig in sein Leben. Wir mussten ganz einfach sein, zur Essenz kommen – wie Mozart – und das durften wir auch bei den Dreharbeiten niemals vergessen. Das haben uns die Kinder, die mitgespielt haben, schnell beigebracht. Zu Anfang haben wir ihnen eine Szene noch mit Realität, Traum und Unterbewusstsein erklärt, also viel zu kompliziert, als dass sie uns folgen konnten. Das war uns eine Lehre. Zum Glück haben die Kinder in Berlin unseren Film auch verstanden – und nicht nur hier. Im vergangenen Jahr wurde er von einer Jury aus 100 Kindern auf dem Festival in Giffoni mit dem 1. Preis ausgezeichnet und Veronica Niccolai bekam den Darstellerpreis."

Es gibt natürlich Akzentverschiebungen zum Buch – ich denke da an Lorenza Mazzettis Auseinandersetzung mit dem Katholizismus, der es z. B. verbietet, Onkel Wilhelm als Selbstmörder auf dem Friedhof zu bestatten.
"Wir hatten darüber lange Diskussionen mit der Drehbuchautorin – wir haben auch eine Szene gedreht, in der die Bauern, die den Sarg zum Friedhof tragen, sagen, dass es nicht richtig sei, ihn dort zu bestatten. Aber wir haben sie rausgeschnitten, weil sie eine Verzögerung an einem Punkt bewirkte, wo der Film zum Schluss kommen musste, um die emotionale Kraft zu behalten, die wir bis dahin aufgebaut haben. Unser Film endet hoffnungsvoller, aber wir haben versucht, ein wenig von dem bitteren Ende zu bewahren durch den Schwenk auf die Engländer, während die Kamera in der Totalen zeigt, dass es nur noch zwei, drei Leute sind, die dem Sarg folgen. Die anderen sind da geblieben. So wird ein bisschen symbolisiert, was im Buch durch die Weigerung, ihn zu begraben, dargestellt wird. Aber natürlich ist ein Film immer etwas anderes als das Buch."

Mit Antonio Frazzi sprach Uta Beth

 

 

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