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Ausgabe 88-4/2001

"Vom Abenteuer, erwachsen zu werden"

Gespräch mit Masaru Konuma, Regisseur des japanischen Spielfilms "Nagisa"

Interview

Der Film "Nagisa" wurde ausgezeichnet mit dem Preis des Deutschen Kinderhilfswerks für den besten Spielfilm des Kinderfilmfestes Berlin 2001. Gedreht nach dem gleichnamigen Comic von Musakami Motoka, hat er seine Geschichte im Jahre 1960 angesiedelt. Die zwölfjährige Nagisa verbringt ihre Sommerferien in einem Touristenort an der Küste nahe Tokio. Von der Kinderfreundschaft mit ihrer engsten Freundin Noriko schon etwas gelangweilt, nimmt sie im Restaurant ihrer Tante einen Ferienjob an, entdeckt durch ihre lebenshungrige Cousine neue Welten, zieht sich aber immer wieder an ihre Lieblingsbucht zum Schwimmen zurück. Dort lernt sie den Jungen Hiroshi kennen, der hier seine Ferien verbringt, und freundet sich mit ihm an. Er traut sich nicht so weit zu schwimmen wie Nagisa, doch sie ermutigt ihn dazu. Der Sommer endet für Nagisa mit einer traurigen und vielen neuen Erfahrungen.

KJK: Waren Sie eigentlich von dem Preis so überrascht, weil es sich bei Ihrem Film um eine "Low Budget"-Produktion handelt?
Masaru Konuma: "Nein, denn ich meine nicht, dass die Qualität eines Films von den Produktionskosten abhängt. Heutige japanische Filme kopieren mehr und mehr die Amerikaner – im Gegensatz dazu wird 'Nagisa' in sehr langsamem Tempo erzählt. Dass das in Berlin 'ankam' und mein kleiner Film so weit von Japan entfernt verstanden wurde, hat mich überrascht und sehr glücklich gemacht."

Die Geschichte des Mädchens Nagisa beruht auf einem japanischen Comic – was hat Sie daran gereizt?
"Ich war fasziniert von der Energie dieses Mädchens. Im Comic erleben wir sie im Alter von 12 bis 18 – die Geschichte meines Films ist darin nur eine kurze Episode. Ich wollte aber von den Gefühlen dieses letzten Sommers der Kindheit erzählen, vom Abenteuer erwachsen zu werden. Und meinen Mitmenschen sagen: Lasst euch ein, sucht eure Abenteuer! Wobei ich Abenteuer nicht so konkret, sondern als Abenteuer der Seele verstehe. Außerdem wollte ich zeigen, was uns fehlt in der heutigen Informationsgesellschaft."

Zum Beispiel?
"In unserem Bemühen um rationale Kontrolle, um das seelische und gesellschaftliche Gleichgewicht sind die direkten Empfindungen, die Sinne, Instinkte, sind Inspiration und das Miteinander ein wenig verloren gegangen."

Spielt der Film deshalb in den 60er-Jahren?
"Ja, denn all das ließ sich in der Atmosphäre eines Insel-Seebades jener Zeit sehr gut darstellen. Damals hatten die Menschen dort eine größere Nähe zur Natur und mehr Kontakt zueinander. Wenn Nagisa aus der Schule nach Hause kommt, wird sie zum Beispiel freundlich von allen Nachbarn gegrüßt. Und Nagisas Cousine, die in Tokio studiert, sagt ihr: Das Wichtigste ist die Sprache des Herzens und die kann man auf keiner Schule oder Universität lernen. Die geht in der Anonymität der Großstadt verloren."

Warum musste Hiroshi in dem Film sterben?
"Vom Leben lernen heißt auch den Tod akzeptieren. Im Comic stirbt der Junge an einer Krankheit, im Film ist Hiroshi durch die Begegnung mit Nagisa zu einem richtigen Jungen geworden und hat den Mut gefunden, bis zum Felsen zu schwimmen. Auch in Japan gab es viel Pro und Contra um diese Szene. Ich selbst habe meine Kindheit an der See verbracht und oft erlebt, dass Menschen im Meer gestorben sind. Dann haben wir einige Tage geweint, aber danach haben wir uns mit dem Tod abgefunden. Wir dachten, die Gottheit des Meeres hat sein Leben genommen – aber nicht, weil dieser Mensch sich versündigt hat. Der Mensch mit all seinen Leidenschaften ist so winzig im Vergleich zur großen Natur. Jean Renoir hat das zum Thema seines wundervollen Filmes 'Der Fluss' gemacht. Ich bewundere ihn sehr."

In dem Film spielt die Musik eine große Rolle ...
"Ich habe sie eingesetzt wie in den alten europäischen Filmen, anders als die Amerikaner heute. Zum Beispiel wirkt das Eröffnungslied am Schluss völlig anders. Obwohl Nagisa gar nicht versteht, was sie da anfangs mit ihrer Freundin singt, animiert sie der Rhythmus zum Tanzen; am Ende aber macht sie dasselbe Lied traurig. Inzwischen ahnt sie, was es heißt, erwachsen zu werden."

Wie haben Sie Ihre Nagisa gefunden?
"Wir hatten sehr viele Bewerbungen und mehrere Vorsprechen. Beim Casting mussten die ausgewählten Mädchen dann schwimmen, laufen und rennen. Im Gegensatz zum Fernsehen, wo Gefühle ja meist in Großaufnahmen durch den Gesichtsausdruck dargestellt werden, wollte ich Nagisas Gefühle vor allem durch ihr Laufen oder Schwimmen zum Ausdruck bringen. Und Madoka Matsuda war physisch total fit und darin wirklich besonders gut. Aber weil sie keinerlei schauspielerische Erfahrungen hatte, hatte sie Schwächen beim Dialog. Außerdem sprach sie Dialekt. Wir haben viel Zeit für die Proben gebraucht und mussten das Drehbuch immer wieder umschreiben für sie."

Wie wurde "Nagisa" in Japan aufgenommen?
"Ich hatte Schwierigkeiten, Kinos zu finden. Da die Hauptdarstellerin kein Fernseh-Star ist, sondern völlig unbekannt, wurde der Film bisher nur in kleinen Kinos gezeigt, aber ich hoffe, dass sich das durch den Preis vielleicht ändert."

Mit Masaru Konuma sprach Uta Beth

 

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