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Ausgabe 59-3/1994

DER MANN AUF DEM QUAI

L'HOMME SUR LES QUAIS

Produktion: Les Productions du Regard / Frouma Films International / Blue Films / Velvet Film, Frankreich / Kanada / Haiti 1993 – Regie: Raoul Peck – Buch: Raoul Peck, André Grail- Kamera: Armand Marco – Schnitt: Jacques Comets – Musik: Amos Coulanges, Dominique Dejean – Darsteller: Jennifer Zubar (Sarah), Toto Bissainthe (Großmutter), Jean-Michel Martial (Janvier), Patrick Rameau (Sorel) u. a. – Länge: 105 Min. – Farbe – Verleih: Sputnik (35mm); in der Schweiz Trigon-Film (35mm)

Eine kleine Provinzstadt in Haiti zur Zeit des Diktators Duvalier. Die Opposition wird unterdrückt, Verdächtige werden verfolgt, ganze Familien ermordet. Die Folter wird zur Dauereinrichtung. Die Eltern der achtjährigen Sarah müssen das Land verlassen. Der Vater, der beim herrschenden Regime in Ungnade gefallen ist, vertraut Sarah und deren beide Schwestern ihrer Großmutter an. Die nervenstarke Geschäftsfrau versteckt die drei Mädchen auf einem Dachboden vor der Geheimpolizei. Vor allem Janvier, brutal und ehrgeizig, will die Kinder aufspüren, um die Eltern zur Rückkehr zu erpressen. Deshalb versucht die Großmutter, die Kinder außer Landes zu bringen. Doch das Vorhaben scheitert, der Fluchthelfer wird erschossen. Sarah flüchtet sich in ihrem Versteck in eine eigene Welt phantastischer und geheimnisvoller Rituale.

Erst zum Schluss erfährt man, dass Sarah, die den Terror überlebt hat, ihre Geschichte aus dreißigjährigem Abstand erzählt. In ihrer Erinnerung vermischen sich die Bilder mit den Erlebnissen und Albträumen aus jenen Jahren. In dieser Rückblendentechnik liegen Hauptstärke und -schwäche des Films zugleich. Auf der einen Seite gelingt es dem Regisseur Raoul Peck, aus der Perspektive eines Kindes die Allgegenwart des politischen Terrors und dessen psychologische Folgen sichtbar zu machen. Am Beispiel des Kindes werden typische Traumata deutlich, am Beispiel der Eltern zusätzlich typische Exilantenerfahrungen. Die konkrete historische Situation erweist sich dabei gleichzeitig als parabelhaft: Was Peck für Haiti zeigt, gilt in vergleichbarer Form auch für andere Länder mit diktatorischen Systemen. Auf der anderen Seite erschwert die komplizierte Montage von Erinnerungsbildern aus mehreren Zeitebenen das Verständnis. Vor allem am Anfang ist der Regisseur bei allem anerkennenswerten künstlerischen Anspruch über das Ziel hinausgeschossen. Hier wird den Zuschauern, vor allem natürlich den jüngeren, schon einige Geduld abgefordert, bis er die einzelnen Passagen richtig zuordnen kann.

Je weiter die Handlung dann aber fortschreitet, desto mehr wächst die Spannung. Trotz des ernsten Themas bleiben Szenen mit physischer Gewalt erfreulicherweise selten. Zu den Ausnahmen zählt die nicht ganz unproblematische Schlussszene, in der das Kind in einer Art Notwehrlage selbst zur Waffe greift.

Dass Raoul Peck sein Handwerk beherrscht, hat er schon vor drei Jahren mit seinem Dokumentarfilm "Lumumba – Der Tod des Propheten" bewiesen. Darin setzt er sich in essayistischer Form mit dem legendären ersten Ministerpräsidenten Zaires, Patrice Lumumba, auseinander. In diesem mehrfach ausgezeichneten Werk verarbeitete der 1953 auf Haiti geborene Regisseur auch eigene Erinnerungen, verbrachte er doch seine Kindheit zum Teil in der zairischen Hauptstadt Kinshasa. Seine Schulbildung schloss er in einem dritten Kontinent ab: 1972 machte er in Frankreich das Abitur; in den 80er-Jahren absolvierte er in Berlin ein Studium an der Film- und Fernsehakademie.

Schon für seinen ersten Langspielfilm "Haitian Corner" erhielt er 1988 mehrere Preise. Auch "Der Mann auf dem Quai" ist inzwischen preisgekrönt: Auf dem 12. Fernseh-Workshop Entwicklungspolitik in Arnoldshain zeichnete die Jury ihn ebenso wie seinen "Lumumba"-Film als herausragende Beiträge aus, "weil sie auf der Höhe der filmischen Mittel den entwicklungsbezogenen Diskurs um die Dimension des interkulturellen Dialogs erweitern". Peck gewann auch für seine neue Arbeit deutsche Produzenten. Neben einer Berliner Firma beteiligte sich das Zweite Deutsche Fernsehen im Rahmen des Projekts "Eine Welt". Dieses Projekt will einen Beitrag zum interkulturellen Dialog zwischen Süd und Nord leisten, indem es durch Co-Produktion, Co-Finanzierung oder den Vorabkauf von Rechten Kinofilme fördert, die Regisseure aus der sogenannten Dritten Welt für das einheimische Publikum – vorwiegend Kinder und Jugendliche – herstellen.

Es bleibt zu hoffen, dass Pecks Film dazu beiträgt, das diktatorisch regierte Haiti mehr in die öffentliche Diskussion zu bringen. Nicht zuletzt um der haitianischen Kinder willen, die unter der Diktatur am meisten leiden und denen Peck seinen Film gewidmet hat. Symptomatisch dafür ist ein Satz von Sarahs Großmutter: "Die Männer gehen, die Kinder bleiben."

Reinhard Kleber

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 61-3/1995 - Interview - "Die Männer gehen, die Kinder bleiben"

 

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