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Ausgabe 59-3/1994

Regisseur Karel Kachyna zum Siebzigsten

Ein Gespräch mit Boris Jachnin, Filmhistoriker

Interview

Beim 34. Internationalen Kinderfilm-Festival Zlín 1994 wurde einer der bedeutendsten tschechischen Filmregisseure, der auch in Deutschland gut bekannte Karel Kachyna (geboren 1924 in der mährischen Stadt Vyskov), anlässlich seines 70. Geburtstages am 1. Mai mit einer Retrospektive einiger seiner wichtigsten Filme geehrt. Aus diesem Anlass sprach KJK-Mitarbeiter Bernt Lindner mit Boris Jachnin, Filmhistoriker und enger Freund und Vertrauter Kachynas, über dessen bisher fünfzig Filme umfassendes Werk.

KJK: Wie kam Karel Kachyna zum Film?
Boris Jachnin: "Kachyna studierte zunächst Bildende Kunst und Fotografie. Der Zweite Weltkrieg unterbrach diese Studien und verschlug Kachyna als Zwangsarbeiter nach Deutschland. Als später in Prag die Akademie der musischen Künste und ihre Filmfakultät gegründet wurden, ging Kachyna dorthin und war einer der ersten Studenten des Faches Kamera und später auch der Regie. Er und sein Kommilitone Vojtech Jasny fanden sich zu einem schöpferischen Tandem zusammen und drehten gemeinsam erste Spielfilme sowie Dokumentarfilme, vor allem von einer Reise durch China."

Wie gestaltete sich Kachynas Arbeit in der sozialistischen CSSR?
"Die Werke seiner ersten Etappe sind gekennzeichnet durch die Begeisterung für ein neues sozialistisches Leben, wie dies bei der überwiegenden Mehrzahl der Intellektuellen der Nachkriegszeit der Fall war. In diesem Geiste arbeiteten Pavel Kohout, Jan Procházka, Milan Kundera und viele andere. Der bald staatlich verordnete Schematismus der 50er-Jahre mit den Einschränkungen durch den kalten Krieg und die Nomenklaturpraktiken des Kremls hat diese schöpferischen Menschen zwar beeinträchtigt, jedoch nicht entmutigt. Sie begannen vorsichtig, von der Linie abzuweichen, die ihnen das Zentralkomitee der Partei vorgezeichnet hatte, in Richtung auf den sozialistischen Realismus. Die Filmkünstler hatten die Beispiele der italienischen Neorealisten und die ersten Werke der französischen Nouvelle Vague vor Augen. Sie begannen, sich von dem realen Bild der Welt um sich herum abzuwenden und gingen in die innere Emigration. Jasny und Kachyna trennten sich. Jasny drehte zwei bedeutende sozialkritische Komödien ('Wenn der Kater kommt' und 'Alle guten Landsleute') und ging nach dem August 1968 ins Ausland."

Wie ging es weiter mit Kachyna?
"Kachyna blieb im Lande und beeindruckte die Zuschauer mit seinem 'König des Böhmerwaldes' durch den überzeugenden romantischen Helden. Seine beginnende Zusammenarbeit mit dem bedeutenden Drehbuchautor und Freund Jan Procházka hatte keinen glücklichen Start. 'Die Fesseln' fanden weder bei den Zuschauern noch bei der Kritik Gefallen. Zu Beginn der 60er-Jahre drehten beide Filme wie 'Die Qual' (über den emotionalen Reifungsprozess junger Mädchen), ein Remake von Lamorisses 'Der weiße Hengst' und andere. In der tschechoslowakischen neuen Welle spielte Kachyna eine wichtige Rolle als Schöpfer intimer Dramen, die unbarmherzig stereotype Idealvorstellungen vom sozialistischen Menschen zerstörten: 'Die Hoffnung', 1963 (über das vorbildliche Leben der Erbauer des Sozialismus); 'Es lebe die Republik', 1965 (über die Befreiung nach Kriegsende); 'Wagen nach Wien', 1966 (über den Faschismus); 'Die Nacht der Braut', 1967 (über den Erfolg der landwirtschaftlichen Genossenschaften). Sie alle hatten allein das individuelle menschliche Glück zum Thema."

Was machte Kachyna nach dem Ende des "Prager Frühlings"?
"Nach der Invasion durch die Truppen des Warschauer Paktes im August 1968 kamen noch kritischere Werke. 'Das Ohr', 1969, und 'Der komische Herr', 1970. Aber diese beiden Filme landeten sogleich im Tresor für verbotene Kunstwerke, und dorthin kamen auch die früheren Werke. Kachynas Freund Procházka starb 1971 enttäuscht und ausgelaugt, hinterließ aber zahlreiche Drehbuchentwürfe. Für Kachyna begann eine andere Ära. Er durfte nicht offen sprechen. Im Nachspann seines Films 'Schon wieder springe ich über Pfützen', 1979, eine Adaption des gleichnamigen Buches von dem australischen Autor Alan Marshall, wurde der Name des Drehbuchautors Jan Procházka verschwiegen. Der Film wurde vielerorts ausgezeichnet, auch im westlichen Ausland, aber nicht immer bis ins Letzte verstanden. Für uns war der gelähmte Junge, der gezwungen war, sich selbst zu helfen, immer ein Abbild des tschechischen Volkes.
In den Jahren der 'Normalisierung' war Kachyna zwar die Möglichkeit genommen, an der Akademie der Musischen Künste das Fach Regie zu lehren, aber er durfte Unterhaltungs- und Kinderfilme drehen. In dieser dritten Etappe schuf er etliche wunderschöne nationale Werke: 'Goldene Aale', 1979; 'Schwestern', 1983; 'Der Tod der schönen Rehe', 1986 – gute volkstümliche Komödien und Filme für Kinder. Aber wie ihm das Schicksal Jan Procházka genommen hatte, so nahm es ihm auch alle anderen Autoren – Ota Pavel, Dusan Hamsík und andere. Es nahm ihm auch die Ehefrau."

Wie lebt Karel Kachyna heute?
"Kachyna lebt und arbeitet am liebsten in Einsamkeit und tiefer Konzentration in seinem Häuschen inmitten von Gärten unterhalb der Prager Burg. Hier gibt es drei Zimmer und eine Küche. In jedem dieser Räume werden gleichzeitig verschiedene Filme vorbereitet, denn Kachyna hat immer einen Vorsprung von mindestens drei Filmprojekten vor dem gerade in Dreharbeit befindlichen. An den Wänden hängen Aufnahmen von Schauspielern, Skizzen von Dekorationen, Kostümen und Requisiten. Auf jeder Arbeitsfläche liegen Haufen von Büchern, Zeitschriften und Anweisungen, die Kachyna sich selbst erteilt. Wenn er von der Arbeit an dem einen Film müde ist, wechselt er in das 'Königreich' des anderen, in eine andere Zeit und zu anderen Menschen.
Niemals hat Kachyna sich beklagt. dass er 'nicht darf'. Er hat immer gearbeitet. Aber das heißt nicht, dass er sich mit der 'Normalisierung' identifiziert hätte, dass er ein 'Kollaborateur' gewesen wäre. Auch nach der Revolution vom November 1989, als viele Filmschaffende erschüttert waren vom Zerfall der staatlichen Kinematographie und durch das Eindringen der westlichen Unterhaltungsindustrie in unser Land, haben wir von Kachyna keine hysterischen Aufrufe gehört, keine 'offenen Briefe' gelesen. Er hat für so etwas keine Zeit. Er dreht seine immer noch gleich engagierten Filme ohne Unterbrechung: Die internationale Koproduktion über Kinder im Konzentrationslager 'Der letzte Schmetterling' (1990) und vor allem zwei Filme nach Texten aus dem Nachlass von Jan Procházka, die begeistert aufgenommen wurden: 'Sankt Nikolaus geht durch die Stadt' (1992) und 'Die Kuh' (1993, Großer Preis des Filmfestivals in Straßburg 1994), beide als Produktionen des tschechischen Fernsehens."

In welchem Zimmer seines Häuschens ist er jetzt?
"Er hat die Folgen einer fünfteiligen Fernsehserie ('Eine gute Saison' nach Texten des Emigranten Josef Skvorecky) abgeliefert. Und er setzt sich in ein Zimmer, an dessen Wänden die Aufnahmen neuer Schauspieler hängen. Sie werden in einer Bearbeitung von Hrabals Buch 'Ich habe den englischen König bedient' spielen ..."

Interview: Bernt Lindner

 

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