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Ausgabe 133-1/2013

"Dieser Junge sollte eine Zukunft haben"

Gespräch mit Markus Imboden, Regisseur des Films "Der Verdingbub"

(Interview zum Film DER VERDINGBUB)

KJK: Sind die Verdingkinder ein Tabuthema in der Schweiz, über das man nicht reden will?
Markus Imboden: Ich glaube eher, man dachte nicht mehr daran. Da spielt die Psychologie des Verdrängens eine große Rolle. Die Betroffenen sprechen nicht darüber, weil sie sich oft selbst die Schuld geben an dem, was mit ihnen passiert ist. Bei vergewaltigten Frauen kann man ein ähnliches Phänomen beobachten. Eigentlich ein Drama! Aber sobald die Geschichten dann publik werden, können diese Menschen über ihre schlimmen Erfahrungen frei reden. Das Thema war präsent, es gab Berichte und Geschichten früherer Verdingkinder, aber der Film hat dann alles in die Öffentlichkeit geschwemmt.

Wie waren die Reaktionen?
Sehr offen und direkt. Nach der Vorstellung zeigen sich die Zuschauer empört, nicht über den Film, sondern über die Ereignisse. Interessanterweise ziehen die Leute den Bogen zur Gegenwart, zum Sozialwesen von heute. Da gibt es auch noch Menschen zweiter und dritter Klasse. Viele bemängeln, dass Behörden immer noch den alleinerziehenden Frauen die Kinder wegnehmen. Und die Verdingkinder sind erleichtert, dass der Film ihnen eine Plattform gibt. Sie haben oft viel Schlimmeres erlebt.

Hatten Sie bei den Recherchen Kontakt zu den Verdingkindern?
Erst bei den Dreharbeiten. Ich wollte mich nicht zu stark beeinflussen lassen und muss erst einmal mit einer Geschichte und dem Film umgehen. Für mich handelt "Der Verdingbub" weniger von der Vergangenheit als von unserer Zeit, über das lange Schweigen und darüber, dass man wie die Hauptfigur seinen Traum verfolgen und seine Leidenschaft leben soll. Dann kann man auch weg aus schlimmen Situationen.

Gibt es eine Moral in Ihrem Film?
Das weiß ich nicht. Zum Filmemachen gehört eine Haltung. Hier heißt sie, man sollte Kinder achten und nicht als minderwertig behandeln. Tatsachen dürfen wir nicht einfach in die Historienecke stellen. Eine Gesellschaft, die sich gegen Veränderung und alles Fremde wehrt, dabei auf das Althergebrachte pocht, darf sich nicht wundern, wenn die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft missachtet und an den Rand gedrängt werden. Damals wie heute.

Sie haben im Emmental an Originalschauplätzen gedreht. Wie gehen da die Einheimischen mit dem Thema um?

Wir stießen auf positive wie negative Resonanz. Einige befürchteten, das ganze schöne Emmental würde denunziert und den Schwarzen Peter kriegen, die Touristen wegbleiben. In Gesprächen konnten wir diese Vorbehalte zerstreuen. Viele Bewohner arbeiteten sogar als Statisten mit. Das Emmental war und ist keine leichte Gegend für die Bauern. Das Pflügen und Heu mähen war kompliziert. Die Bauern waren arm und sparten sich durch die Verdingkinder Mägde und Knechte. Früher galt Familie als Hüterin von Glück und Moral, es herrschte Zucht und Ordnung auf den Höfen. Eine Ohrfeige war eine normale Erziehungsmaßnahme. Kinder wurden ihrer Kindheit beraubt, auf Märkten wie Vieh zum Verkauf ausgestellt. Einfach furchtbar. Die Liberalisierung hat vor den Dörfern nicht Halt gemacht, 99 % der Bevölkerung dort finden die Thematisierung des Unrechts richtig und sagen selbstbewusst "wir sind nicht mehr so".

Wie kam das Projekt zu Ihnen?
Als Auslöser betrachte ich die Geschichte meines Vaters. Er stammte zwar nicht aus ärmlichen Verhältnissen, war aber Waisenkind und wuchs bei seinen Großeltern auf. Er hat mir bei langen Spaziergängen viel von seiner Kindheit erzählt, von der Scham, die er als Waise fühlte. Wie dem Verdingbub fehlte ihm Liebe, das familiäre Gefühl des Geborgenseins. Das hat er dann meiner Schwester und mir mit vollem Herzen gegeben. Mich faszinierten die Chance, ein Drama zu realisieren, das sich wie eine griechische Tragödie entwickelt und die Möglichkeit, das Schweigen zu brechen. Ich bin im Berner Oberland aufgewachsen und daher weiß ich, was es heißt, Wut und Zorn in sich hineinzufressen und zu schweigen.

Obgleich die Bauernfamilie die ihr anvertrauten Kinder ausnutzt, halten Sie sich mit einer Verurteilung zurück.
Ein Kinofilm muss dem Zuschauer die Möglichkeit eröffnen, sich selbst ein Bild zu machen. Der Bauer Bösiger ist eine arme Sau, ein Säufer, dessen Weg direkt in den Abgrund führt, aber er ist auch ein Mann voller Sehnsucht und Liebe. Der Bäuerin hat das Schicksal schlimm mitgespielt, sie versteckt sich in ihrem Unglück hinter großer Härte. Beide leiden unter der Unfähigkeit, sich auszudrücken und dem anderen mitzuteilen. Manchmal sind Menschen Opfer der Umstände, aus denen sie nicht herauskommen. Wir sollten uns hüten, ein Urteil zu fällen.

Wie haben Sie Katja Riemann gezähmt, die für ihre Rolle als verhärmte Bäuerin sogar den Dialekt lernte?
Ich musste sie nicht zähmen. Nach zwei Tagen war die Nervosität weg und die Zusammenarbeit war das einfachste überhaupt. Katja zeigte den notwendigen Mut zur Hässlichkeit und zur Härte. Sie wollte die Figur so authentisch wie möglich verkörpern. Und da sie selbst auf einem Bauernhof aufgewachsen ist, war ihr die Geschichte von Armut und Verzweiflung nicht fremd.

Sie überraschen mit einem versöhnlichen Ende. Das könnte man auch als zu harmonisch empfinden.
Es gab Fälle von Selbstmord, aber auch Fälle, wo diese Verdingkinder in die Welt hinausgingen und es geschafft haben, die Schrecken hinter sich zu lassen. Für mich musste das sein. Dieser Junge sollte eine Zukunft haben. Die Musik verleiht ihm Kraft zum Überleben. In ihr liegt alles, was ihn ausmacht, alles was er erlebt hat, die ganze furchtbare Vergangenheit. Das ist das Wesen von Musik. Und Tango symbolisiert Schmerz, die Grundlage seiner Geschichte. Insofern sagt der Film auch einiges über Musik aus. Das Handorgelspiel war eine Berufung für ihn, ein Möglichkeit des Neuanfangs.

Interview: Margret Köhler

 

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Hintergrundartikel

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