Produktion: Hsu Li-Kong, Wang Shau-Di, Taiwan 1995 – Buch und Regie: Chen Yu-Hsun – Kamera: Liao Pen-Jung – Schnitt: Chen Sheng-Chang, Lei Cheng-Chin – Musik: Yu Kuang-Yen – Darsteller: Lin Chen-Sheng (Liu Zhi-Quiang), Lien Pi-Tong, Wen Yin, Lin Chia Hong, Shi Ching Luen – Länge: 105 Min. – Farbe – Verleih: offen – Weltvertrieb: Central Motion Picture Corporation, Taipeh – Altersempfehlung: ab 12 J.
Beim Kidnapping von Kindern hört eigentlich jeder Spaß auf – doch das gilt nicht unbedingt für das Medium Film, jedenfalls nicht für das leicht melodramatische, gleichermaßen vergnüglich wie nachdenklich stimmende Spielfilmdebüt "Tropical Fish" des jungen Taiwanesen Chen Yu-Hsun. Nach einer Buchhändlerausbildung hatte er filmische Erfahrungen in der Produktion von Situationskomödien für das Fernsehen sammeln können, die ihm in der Umsetzung seines "eigenen" Filmstoffes offensichtlich zugute kamen. Im Wettbewerb der 48. Internationalen Filmfestspiele von Locarno erhielt sein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Werk den Preis der UNESCO, den diese anlässlich ihres 50-jährigen Bestehens vergab.
Wie alljährlich 100.000 andere Jugendliche in Taiwan paukt der junge Gymnasiast Zhi-Quiang für die Eingangsprüfungen, die unabdingbare Voraussetzung für die Vorbereitungsklassen zum späteren Studium sind. Nur ein knappes Drittel besteht diese strengen Examina. Schon im Vorfeld stehen die Chancen schlecht für den Jungen, der von seinen Eltern wegen seiner mangelhaften Leistungen nur mit Vorwürfen überschüttet, von den Klassenkameraden gehänselt und von einer unbarmherzigen Lehrerin ständig verprügelt wird. Deren Hals steckt in einem Stützkorsett, was sie nicht daran hindert, ihre Macht auch physisch auszuüben und sehr anschaulich darauf hinweist, dass Erwachsene nur dann so brutal mit Kindern umgehen können, wenn ihnen zuvor (im übertragenen Sinn) selbst das Rückgrat gebrochen wurde. In seiner Ohnmacht flüchtet sich Zhi-Quiang in Videospiele, sieht sich darin als Superheld und träumt von seiner Sammlung tropischer Fische, die in romantischeren Zeiten auch einmal vor den Küsten Taiwans schwammen, nun aber gänzlich verschwunden sind.
Eines Tages wird ein kleiner Junge entführt, dem Zhi-Quiang öfter im Spielsalon begegnete. Er glaubt, den Entführer zu kennen, macht sich auf die Suche nach ihm – und wird selbst gekidnappt. Noch bevor es zur Übergabe des Lösegeldes kommt, stirbt der eigentliche Drahtzieher der Entführung, ein ehemaliger Polizist, bei einem Verkehrsunfall. Sein gutmütiger Helfer Ah Ching sieht sich nun allein mit den beiden Kindern und transportiert sie etwas unbeholfen erst einmal zu seinen Verwandten, die in ärmlichen Verhältnissen in einem Fischerdorf an der Küste leben, um sich von ihnen Rat zu holen. Die verfolgen ihren vermeintlichen Anspruch auf das Lösegeld geradezu dilettantisch weiter, vermitteln den Kindern aber gleichzeitig ein Gefühl von Liebe und Geborgenheit, die diese bisher nicht kannten. Unterdessen bangt eine ganze Nation vor dem Bildschirm um nichts anderes, als dass die Polizei Zhi-Quiang rechtzeitig genug vor seiner Prüfung finden möge. Von dem jüngeren Opfer ist ohnehin kaum die Rede, ein Waisenkind, dessen Stiefvater sich geweigert hatte, auch nur einen Pfennig für den unehelichen Sohn seiner verstorbenen Frau zu zahlen. Kein Wunder also, dass die weitgehend sprachlosen, fast stummen Kinder, die sich mehr mit viel sagenden Gesten und Blicken verständigen und artikulieren, ihre Gefangenschaft als eine Art Abenteuerurlaub erleben, die Vision von einer menschlich besseren Welt bekommen, in der gleichwohl Probleme durch notorischen Geldmangel und berufliche Chancenungleichheit an der Tagesordnung sind. Diese differenzierte Sichtweise, verbunden mit komödiantischen, leicht slapstickartigen, oft bis ins Surreale gehenden Einfällen, wird bis zum versöhnlichen, gleichwohl offenen Schluss beibehalten.
"Tropical Fish" ist ein ebenso vergnügliches wie eindringliches Plädoyer gegen Hektik, Stress und Leistungsdruck und für die Rettung von Phantasie und Kreativität nicht nur bei Kindern. Besonders jüngere Zuschauer werden dem Film vielleicht zuerst mit derselben Mischung aus Misstrauen, Neugier und Erleichterung begegnen, wie es die beiden Gekidnappten "ihrer" Entführerfamilie gegenüber taten, doch das kommt seiner sinnlichen Vermittlung eigentlich nur entgegen. Vom Anspruch her hat er das Format für einen richtig guten Familienfilm mit leicht exotischem Einschlag. So ist zu wünschen, dass sich mit der Preisvergabe der UNESCO nicht wieder einmal eine Institution nur selbst verdienstvoll feiern wollte, sondern darüber hinaus auch Mittel und Wege gefunden werden, den Film im Ursprungsland und in allen Staaten zu verbreiten, in denen der "guten Erziehung" gedankenlos immer noch ein höherer Stellenwert zukommt, als dem Wohl und dem Glücksanspruch von Kindern.
Holger Twele
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