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Ausgabe 77-1/1999

BESCHKEMPIR

Produktion: Noé Productions / Kirgis-Film; Kirgisien / Frankreich 1998 – Regie: Aktan Abdikalikow – Buch: Aktan Abdikalikow, Awtandil Adykulow – Kamera: Hassan Kydyraliew – Schnitt: Tilek Mambetowa – Musik: Nurlan Nyschanow – Darsteller: Mirlan Abdikalikow, Albina Imaschewa, Adyr Abylkassymow, Bakyt Shylkytschiew, Mirlan Tschinkoshew – Länge: 81 Min. – Farbe und s/w – Kontakt: Celluloid Dreams, 24, rue Lamartine, F-75009 Paris, Tel. 0033-1-4970 0370, Fax 0033-1-4470 0371 – Altersempfehlung: ab 10 J.

Fünf alte Frauen in handgewebten farbenprächtigen Gewändern beugen sich liebevoll über einen Säugling, der auf der Matte vor ihnen liegt. Sorgfältig wickeln sie ihn in Tücher, nennen ihn Beschkempir, was auf kirgisisch "fünf alte Frauen" heißt. Schnitt – im doppelten Sinne. Wir treffen den Jungen Jahre später auf einem Stuhl sitzend wieder, als ihm die Haare auf kirgisische Männerart gestutzt werden. Jetzt ist Beschkempir ein junger Mann von zwölf Jahren. Assoziationen zu Usman Saparows "Mann von acht Jahren" sind erlaubt. Doch Beschkempir hat es besser als Saparows kleiner Held, der in der Unerbittlichkeit der turkmenischen Steppe schwere Prüfungen zu bestehen hat. Beschkempir wächst im warmen Kirgisien frei und unbeschwert heran, liebevoll von den Großmüttern geschützt. Seine Unbekümmertheit weicht einer Irritation, als ihn ein Spielkamerad voller Wut und Eifersucht einen Bastard nennt, nur weil sich das von ihm erwählte Mädchen lieber Beschkempir zuwendet als ihm.

Das Wort sitzt wie ein Stachel im Fleisch, die Unschuld der Kindheit ist dahin. Vom Vater erfährt er keine Antwort auf seine drängenden Fragen und auch die anderen Erwachsenen weichen aus, tun die Bemerkung als dummen Jungenstreich ab. Beschkempir ist zunehmend verunsichert. Hinzu kommen ungekannte körperliche Sehnsüchte, denen mit gleichaltrigen Jungen neugierig nachgegangen wird. Verstohlen beobachten sie eine massive Frau, die auf ihrem entblößten Oberkörper Blutegel ansetzt. Das ist abstoßend-faszinierend. Inspiriert durch das Gesehene formen sie eine große Frau aus Sand, die mit gespreizten Beinen bereitliegt. Sie stacheln sich gegenseitig zu Obszönitäten an, stieben aber aufgeregt auseinander, als sie etwas herankommen hören. Es sind Rinder, unter deren Hufen die Frau auf wundersame Weise unversehrt bleibt.

Als eine der fünf alten Frauen stirbt, erfährt Beschkempir die Geschichte seiner Herkunft. Es war der letzte Wunsch der Verstorbenen, dem Jungen endlich zu sagen, dass er ein Adoptivkind ist. Nach alter kirgisischer Tradition bieten kinderreiche Familien einem kinderlosen Paar ihr Neugeborenes an, damit sie es großziehen.

Beschkempir erlangt seine Selbstsicherheit zurück, ist jetzt wirklich ein Mann geworden. Sein Mädchen holt er auf einem geliehenen Fahrrad ab. Vorher hat er den Gepäckträger abmontiert, wie er es bei den anderen jungen Männern des Dorfes gesehen hat, damit das Mädchen nur vorn auf der Stange Platz nehmen kann. Gemeinsam fahren sie in den sonnendurchfluteten Frühling, hinaus aus dem Dorf in ein neues unbekanntes Gebiet.

Der Debütfilm des 1957 in einem kirgisischen Dorf geborenen Regisseurs und Autors Aktan Abdikalikow ist ein liebevoller Blick auf eine kirgisische Kindheit auf dem Lande. Er zeigt die Nöte eines Heranwachsenden, die Aufregungen, das Leid, die Freuden des Lebens, das wie ein langsamer Fluss dahin gleitet. Der Schwarzweißfilm setzt farbige Akzente: die eingangs beschriebene Szene; das Amulett, das im gelben Brackwasser schwimmt, aus dem Lehmziegel gestochen werden; das Mädchen, das Sehnsüchte weckt; der Film mit der Tänzerin, der in einem Freiluft-Kino gezeigt wird. Doch auch die schwarzweißen Bilder sind voller Schattierungen, das Licht des Frühlings leuchtet in den Ästen, die Hitze des Sommers flimmert in der Landschaft, poetische Bilder, kraftvoll, ruhig, mit langem Atem, unspektakulär und doch einmalig. Der Sohn des Filmemachers spielt die Hauptrolle und alle anderen Mitspieler sind ebenfalls Laiendarsteller. Sie erfüllen die Filmerzählung mit ihrem Leben, spielen ihre eigenen Erfahrungsschätze aus und machen "Beschkempir" zu einem kleinen Meisterwerk.

Beim 8. Festival des Jungen Osteuropäischen Films in Cottbus erhielt der Film den Hauptpreis: "Ein Debütfilm, der von außergewöhnlicher Meisterschaft der Filmkunst zeugt." Und den "Findling" des Interessenverbandes Filmkommunikation e.V. mit folgender Begründung: "Durch die Augen des etwa zwölfjährigen Beschkempir verwandelt sich der Alltag in einem kirgisischen Dorf in die bewegende Geschichte vom Erwachsenwerden. Selten wird kindliche Unbeschwertheit, Schabernack, Neugierde, Raufereien, Anarchie und das Familienleben so unverstellt und humorvoll auf die Leinwand gebracht. Als Zuschauer werden wir zum Vertrauten Beschkempirs bei der Entdeckung seiner ersten zarten Liebe, der Aufklärung des Geheimnisses seiner Geburt und beim Begreifen der Welt und ihrer Wunder. Dem Regisseur gelingt es, ... aus alltäglichen Szenen eine schlichte Geschichte von poetischer Intensität zu entwickeln."

Gudrun Lukasz-Aden

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 83-1/2000 - Interview - "Der erste Kinobesuch ist immer farbig"
KJK 80-1/1999 - Interview - "Als Filmstar fühle ich mich deshalb jedoch nicht!"

 

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