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Ausgabe 79-3/1999

MADELIEF – DAS ZEICHEN AUF DEM TISCH

SCRATCHES ON THE TABLE

MADELIEF – DAS ZEICHEN AUF DEM TISCH

Produktion: Egmond Film and Television; Niederlande 1998 – Regie: Ineke Houtman – Buch: Maarten Lebens, Rob Arends, nach dem Roman "Krassen in het tafelblad" von Guus Kuijer – Kamera: Sander Snoep – Schnitt: Leo de Boer – Musik: Henny Vrienten – Darsteller: Madelief Verelst (Madelief), Rijk de Gooijer (Opa), Margo Dames (Mutter), Thomas Acda (Onkel Wim), Kitty Courbois (Oma) u. a. – Länge: 85 Min. – Farbe – Weltvertrieb: egmond Film and Television, Potgieterstraat 38, NL – 1053 XX Amsterdam, Tel. 0031-20-589 09 09, Fax: 0031-20-589 09 01 – Altersempfehlung: ab 10 J.

Ineke Houtman gelingt es in ihrem ersten Kinofilm, existenzielle Lebensfragen mit großer erzählerischer Leichtigkeit darzustellen. Wie ein Krimi wird die Geschichte eines Mädchens erzählt, das aus den Hinterlassenschaften und den fast schon verschütteten Erinnerungen ihrer Verwandten das Leben der gerade verstorbenen Großmutter rekonstruiert. Ein bemerkenswerter Spannungsbogen zieht sich durch die gesamte Geschichte. Dabei deckt die etwa zehnjährige Madelief mitnichten irgendwelche Verbrechen auf, sondern sie entdeckt, wie Menschen mit dem Scheitern ihrer Lebensträume nicht zurechtkamen, wie sie es nicht vermochten, sich gegenseitig zu artikulieren und wie sie sich schließlich zunehmend verschlossen und gegenseitig quälten. Einen solch komplizierten Stoff für Kinder zu erzählen, ist möglich geworden, weil die Geschichte spannend und unterhaltsam inszeniert ist und weil konsequent der Blick der kleinen Protagonistin eingenommen wurde.

Madelief nimmt die Umstände zunächst so, wie sie sich ihr darstellen. Sie lebt mit ihrer Mutter allein in der Stadt. Erst die Nachricht vom Tod der Oma lässt ihr bewusst werden, dass sie schon viele Jahre nicht mehr bei dieser zu Besuch waren. Als der Opa nach der Beerdigung einige Tage bei ihnen in der Stadt verbringt, beginnt das Mädchen, ihn und auch ihre Mutter mit naiver Neugier nach der Großmutter auszufragen. Sie erhält kaum Antworten. Das ändert sich zunächst auch nicht, als der Großvater zurück in sein Dorf will und Madelief ihn begleiten darf. In seinem Haus verhält sich der alte Mann in den Augen des Mädchens höchst widersprüchlich. Manchmal hat man den Eindruck, er ist ein ganz lustiger Mensch, und dann ist er wieder mürrisch und außerordentlich pedantisch. Er öffnet sich dem lebensfrohen Mädchen, um sich im nächsten Moment wieder barsch und hartherzig zu zeigen.

Als Madelief im Garten eine überwucherte Laube entdeckt, verbietet er ihr sehr streng, dort hineinzugehen. An den Reaktionen des Großvaters merkt Madelief instinktiv, dass in dem Häuschen möglicherweise eine Antwort auf ihre Fragen verborgen ist. Gemeinsam mit Mischa, einem neu gewonnenen Freund aus dem Dorf, bricht sie heimlich die Tür der Laube auf und entdeckt eine Welt, die im völligen Kontrast zu der sie sonst umgebenden kleinbürgerlichen Häuslichkeit steht. Sie findet Holzmasken und Landkarten ferner Länder, alte Bücher, Briefe und ein Tonbandgerät. All die Dinge gehörten einst ihrer Großmutter. Madelief vertieft sich in die Hinterlassenschaften, die das Bild einer lebenslustigen jungen Frau zeichnen, die sich nach Abenteuern und Reisen in ferne Länder sehnt. Gebrochen wird diese Sehnsucht zunehmend durch alltägliche Zwänge. Kinder werden geboren und der Lebensunterhalt muss verdient werden. Der Großvater war es, der in bodenständiger Haltung an das Notwendige und das Machbare erinnerte. Eines Tages waren die Träume der Großmutter zerbrochen. Die Laube wurde verschlossen und eine zunehmend verbitterte Frau drangsalierte fortan mit einem pedantischen Reinigungsfimmel und mit körperlicher Lebensverweigerung ihren Mann und auch ihre Kinder.

Jegliche Freude war aus dem Haus gewichen. Der Bruder der Mutter wanderte nach Kanada aus, die Mutter selbst entzog sich immer mehr dem Elternhaus, und der Großvater fügte sich schuldbewusst dem Diktat seiner Frau. Für Madelief wird die Tragik dieser Familiengeschichte letztendlich deutlich, als sie ein Zeichen, das in den Tisch der Laube geritzt ist, mit Mischas Hilfe entziffert. Die über einem Kreis gekreuzten Linien deuten auf ein Gefängnis, auf das Gefühl des Eingesperrtseins hin. Die Großmutter fühlte sich gefangen und ist daran zerbrochen.

Wenn Madelief Entdeckungen in der Vergangenheit macht, dann bedient sich der Film optisch leicht verfremdeter Rückblenden. Die Großmutter wird für den Zuschauer sinnlich wahrnehmbar. Sie wird zum Zentrum des Krimis, wird indirekt zur Gesprächspartnerin von Madelief, und durch das Aufdecken ihrer Geschichte finden die übrigen Mitglieder der Familie wieder zu einem gemeinsamen Gespräch. Zunächst ist es der Großvater, der sich zwar vehement wehrt, sich dann aber – provoziert durch Madeliefs Hartnäckigkeit – seiner Vergangenheit stellt. Später finden dann auch die Mutter und deren Bruder über eine differenzierte Sicht auf die Vergangenheit zu einer ausgewogenen Haltung im Heute.

Der Film wirft in leichter Erzählhaltung tiefgründige Fragen nach den Verschachtelungen von Leben über Generationen hinaus auf. Für Kinder eine höchst spannende Fragestellung und für Erwachsene etwas, was sie so leicht verdrängen und worüber sich gelegentlich nachzudenken lohnt.

Klaus-Dieter Felsmann

 

Bundesverband Jugend und Film e.V.MADELIEF – DAS ZEICHEN AUF DEM TISCH im Katalog der BJF-Clubfilmothek unseres Online-Partners Bundesverband Jugend und Film e.V.

 

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