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Ausgabe 79-3/1999

ZEIT DER JUGEND

A SOLDIER'S DAUGHTER NEVER CRIES

Produktion: Merchant-Ivory / British Screen; Großbritannien 1998 – Regie: James Ivory – Buch: Ruth Prawer, James Ivory, nach einem Roman von Kaylie Jones – Kamera: Jean-Marc Fabre – Musik: Richard Robbins – Darsteller: Kris Kristofferson (Bill Willis), Barbara Hershey (Marcella Willis), Samuel Gruen (Benoit), Leelee Sobieski (Channe), Jesse Bradford (Billy) u. a. – Länge: 127 Min. – Farbe – FSK: ab 6, ffr. – Verleih: Advanced (35mm) – Altersempfehlung: ab 14 J.

Es ist das Paris der 60er-Jahre. Eine amerikanische Familie lebt mit ihrer kleinen Tochter Channe in guten Verhältnissen, denn Bill Willis ist ein renommierter Autor. Ein kleiner Junge soll noch dazu adoptiert werden, denn eigene Kinder kann Marcella nicht mehr bekommen. Benoit, den nun die Sozialpflegerin bringt, bekam seine Mutter mit 15 Jahren, sie konnte und wollte ihn nicht behalten. Relativ spät wird der Adoptionsvertrag von der Mutter unterschrieben. Sie hinterlässt ein Tagebuch, das der Sohn später vielleicht einmal lesen sollte. Anstatt des südländischen Vornamens erwählt sich der Kleine den Vornamen des Stiefvaters, also Billy. Mit Channe, der etwa Gleichaltrigen, wächst er nun heran, geht in die internationale Schule und lernt über die Jahre auch die Jungen kennen, mit denen Channe befreundet ist. Francis ist einer von ihnen. Seine Mutter liebt Opern, und er muss mit seiner Knabenstimme Mozart-Arien auch vor der Klasse zum Besten geben.

Später wechseln Francis und Channe die Schule. Das Mädchen geht mit der Familie zurück in die USA, der Vater wollte es so. Dort wird das Haus bezogen, das Bill Willis schon als Zehnjähriger so liebte. Es ist alles gut, Channe und Billy kommen halbwegs mit ihrer Pubertät zurecht, das Mädchen hat auf Anhieb mehr Kontakte als ihr Bruder. Kontakte, die dem liebenswert besorgten Vater aber auch zu schaffen machen: Sie solle lieber nicht mit den Jungs im Auto schlafen, es sei besser, sich einen richtigen auszusuchen und mit ihm hier, unter dem Dach der Familie zu schlafen. Keith ist ein junger Mann mit lauteren Absichten.

Alles könnte nun wie gewünscht verlaufen, würden beim Vater nicht ernsthafte gesundheitliche Probleme auftreten. Er, der immer der Wegweiser in der Familie war, der großzügig und geradlinig die Sicht auf die Dinge des Lebens immer dann anbot, wenn es der Moment erforderte, er stellt sich auf den Tod ein. Billy lässt er wissen, dass er nun die Verantwortung für die Familie übernehmen muss. Das Unausweichliche kommt. Marcella, die Mutter, verfällt in Apathie, will nur noch schlafen. Billy bringt sie wieder in Aktion. Nun möchte sie, dass er aufs College geht. Und sie drängt ihn sanft, vielleicht doch das Tagebuch zu lesen, das seine Mutter als 15-Jährige schrieb, als sie den Sohn erwartete.

Ein Film der groß ausladenden Erzählform, überwiegend gut besetzt und in drei Hauptkapitel unterteilt, die zeitliche Zäsuren darstellen. Das letzte ist einfach mit "Daddy" überschrieben. Der Vater ist mit jener leicht imposanten Art gezeichnet, mit der Amerikaner dem sie verunsichernden Charme von Paris begegnen. Kris Kristofferson spielt ihn mit dem Sinn für Lebenserfahrung und Souveränität. Barbara Hershey als Marcella bietet Emotionen, stets durchsetzt von der Sorge, die Mutter Billys würde ihren Sohn zurückfordern, doch tatkräftig, wo es die Familie braucht. Channe und Billy wachsen von früh an zusammen, auch wenn Candida, das Hausmädchen, instinktiv erst das kleine Mädchen bevorzugt. Channes Erwachsenwerden – zunächst in naiv-bewundernder Bindung an den leicht skurrilen Francis, dann nach einer etwas wilderen Experimentierphase mit amerikanischen Boys dem anständigen Keith zugetan. Man glaubt es ihr, wie sie die Stufen auf dem Weg zur jungen Frau nimmt. Ihr Erschrecken über die erste Menstruation nehmen Regie und Kamera beiläufig wahr. Es gibt bald wieder Wichtigeres für Channe, sie lernt viel und bleibt emotionale Stütze für die Mutter, mit der sie einmal trostvoll tanzt. Billy, sowohl als kleiner Junge wie später als Jüngling von Ernst und Selbstbesinnung gezeichnet, braucht diesen Vater besonders. Er wird anders erwachsen, leidgeprüfter als seine Schwester. Sein emotionaler Durchbruch kommt mit dem Übernehmen der Verantwortung für die Familie.

Der Film hat Überlänge, doch für den Zuschauer gibt es kaum eine Stelle, an der seine Beteiligung nachlässt. Die Stärke liegt in vielen gut beobachteten und inszenierten Details. Und er geht auch Blick schärfend um mit dem von Höhen und Tiefen begleiteten Leben dieser Familie in zwei so verschiedenen Kulturkreisen. Für junge Zuschauer mag es Stationen möglicher Identifikation geben, denn es sind traditionelle und moderne Lebensmuster und Wertvorstellungen im Wandel, die hier durchlebt werden. In die Suche nach Orientierung und Glück mischt sich zunehmend der Sinn für Normalität, Sicherheit und gute Gefühle. James Ivory gelang ein Film, der vielen und besonders auch jungen Menschen etwas zu sagen hat.

Wolfgang Brudny

 

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Ausgabe 79-3/1999

 

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