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Ausgabe 87-3/2001

"Wie ein Schrei"

Gespräch mit Bahman Ghobadi (Drehbuch und Regie) und Saed Nikzat (Kamera) zum iranischen Spielfilm "Zeit der trunkenen Pferde"

(Interview zum Film ZEIT DER TRUNKENEN PFERDE)

KJK: Ihr Film wirkt wie ein Dokumentarfilm über das harte Leben in den Bergen an der iranisch-irakischen Grenze. Zeitweilig hatte ich sogar den Eindruck, er sei in Schwarzweiß gedreht, andererseits kann ich mich z. B. ganz genau an die wunderbar klaren Farben des Himmels erinnern.
Saed Nikzat: "Wenn auch Sie diesen Eindruck haben, haben wir erreicht, was wir wollten. Ich kenne mich mit Farben gut aus, weil ich auch fotografiere und habe dem Labor zur Herstellung dieser grauen Atmosphäre ganz bestimmte Farben empfohlen."
Bahman Ghobadi: "Obwohl ich alle Szenen genau vorgegeben habe, ist die Geschichte ja vollkommen authentisch. Bei den Recherchen für meinen Kurzfilm 'Leben im Nebel' 1998 habe ich Jugendliche kennen gelernt, die Waren über die Grenze zwischen dem iranischen und irakischen Kurdistan schmuggeln. Damals beschloss ich, sie und ihre Familien näher kennen zu lernen und in einen Film einzubinden. Aber vor allem war es der behinderte Madi, der mich dazu gebracht hat, diesen Film zu drehen. Sein sprechendes Gesicht hat mich so beeindruckt, dass ich ihn in dem Film kaum etwas sagen ließ, obwohl er in Wirklichkeit reden kann. Sein Schweigen lässt so viel spüren! Überhaupt sind es die Kinder, die uns mitgenommen, einfach nachgezogen haben. Madi, Ayoub, Amaneh und Roschin stehen stellvertretend für die Kinder in Kurdistan."

In dem Film-Song heißt es: "Das Leben zwingt mich, durch die Berge und Täler zu ziehen. Es nimmt mir meine Jugend, bringt mich dem Tode näher."
Bahman Ghobadi: "Ja, es ist ein entbehrungsreiches Leben, das früh alt macht. Aber die Kinder kennen es gar nicht anders, sie haben schon so viel Schlimmes gesehen und erlebt – dennoch haben sie eine außerordentliche Kraft und Lebensfreude."

Gibt es an dieser Grenze immer noch Minen?
Saed Nikzat: "Ja, die Minen gibt es noch immer. Obwohl sich die Schmuggler dort ja gut auskannten, mussten wir bei den Dreharbeiten sehr aufpassen. Wir sind möglichst nur über Steine gelaufen."
Bahman Ghobadi: "Es waren schon extreme Bedingungen in eisiger Kälte. Wir haben dort zwei Jahre gedreht, weil plötzlich kein Schnee mehr lag und wir auf das nächste Jahr warten mussten. Für diesen Film hat meine Familie Großes geleistet, meine Mutter, meine Schwestern, meine Brüder, die Onkel, alle haben mich unterstützt, weil ich das nötige Geld nicht hatte. Und sie haben alle mitgespielt, auch unsere Hausbesitzer – deren Kind haben wir auch mitspielen lassen, damit sie uns nicht aus dem Haus schmeißen. Außerdem war es nicht nur für mich, sondern für alle Beteiligten der erste Spielfilm. Aber wenn ich kein Kurde wäre, wenn ich nicht so viele Schwierigkeiten gehabt hätte, so viel gelitten, hätte ich auch nicht so einen Film machen können. Das schwere Leben während meiner Kindheit und Jugend in Bane – das liegt in Kurdistan, etwa zwei Autostunden entfernt von dem Dorf, in dem wir gedreht haben – hat mich zum Regisseur gemacht. Mein Leben war ja wie das von Ayoub. Ich war elf, als meine Eltern sich trennten und meine Mutter mit sieben Kindern allein war. Ich habe vier ältere Schwestern und zwei jüngere Brüder, da musste ich einfach arbeiten. Und das war immer wie ein Schrei in meinem Hals, der dort stecken geblieben ist. Diesen Schrei wollte ich irgendwie loswerden – er hätte auch als Bild oder Gedicht raus kommen können, aber jetzt ist es eben ein Film geworden. Er ist das Resultat eines Schreis."

Sie sind der erste kurdische Filmemacher im Iran, noch dazu sehr erfolgreich. "Zeit der trunkenen Pferde" hat einige Preise bekommen, u. a. die "Goldene Kamera" in Cannes, der Iran hat ihn für den "Oscar" gemeldet. Wie sind Sie zum Film gekommen?
Bahman Ghobadi: "Das war Glück. Ich bin nach Teheran gegangen, habe dort die Filmakademie besucht, aber leider kaum was gelernt und abgebrochen. Vor elf, zwölf Jahren wurde dort ein Büro für junge Filmemacher eröffnet, die haben uns eine 8mm-Kamera gegeben und damit habe ich Kurzfilme gemacht – meistens für Kinder. Ich habe also das Kino mit Kindern gelernt."

Die realistische Darstellung in der Grenzregion beinhaltet doch auch sehr viel Kritik an den sozialen und damit politischen Zuständen – wie hat man im Iran auf den Film reagiert?
Saed Nikzat: "Nur positiv, selbst da, wo wir vorher selbst Zweifel hatten. Die Schwierigkeiten gibt es ja überall im Iran, so dass auch die Regierung sich über das Gezeigte wahrscheinlich nicht wundert, es ist Realität. Außerdem gibt es das, was da in Kurdistan gezeigt wurde, überall in der Welt. Man kann diesen Film natürlich auch als einen politischen Film sehen, das war aber nicht unser Ziel. Die Grenze steht hier ja weniger für eine politische als gedankliche Grenze, die Ayoub in dem Bewusstsein: 'Ich werde, ich will das schaffen!' überschreitet und sich damit selbst befreit. Wenn ein Künstler eine Gesellschaft abbildet, dann beinhaltet das ja immer auch die politische Situation. Leben, Politik und Religion kann man nicht voneinander trennen."
Bahman Ghobadi: "In Kurdistan ist es einer der meist gesehenen Filme. Zuerst wurde der Film in Bane gezeigt und alle Dorfbewohner waren bei der Premiere. Ich konnte leider nicht dabei sein, aber mein Bruder war da und hat erzählt, dass Madi – der Begabteste von allen, den ich an drehfreien Tagen zu schonen versuchte, der aber dann so weinte, dass wir ihn schließlich überall, selbst an den kältesten Tagen mitgenommen haben – gar nicht auf die Leinwand geguckt, sondern immer nur auf die Reaktionen meines Bruders geachtet hat. Am Schluss haben alle Dörfler dem Bruder die Hand geschüttelt. Wenn jemand heiratet, sagt man bei uns: 'Hoffentlich werdet ihr zusammen alt!' – und so was Ähnliches haben sie auch gesagt. Als wäre es eine Hochzeit. Und ein Freund in Teheran, der mit seinen Kindern ein paar Mal in dem Film gewesen ist, hat erzählt: 'Meine Kinder sind jetzt anders, die fühlen anders, der Film hat sie verändert.' Sie kannten bislang nur Computer und Digitalfilme. Auch die Kinder, die in Kurdistan in den Städten leben, kennen dieses Leben nicht, es ist also sehr lehrreich für sie."

In den letzten Jahren sind viele starke Kinderfilme im Iran gedreht worden. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Saed Nikzat: "Es gab keine Möglichkeiten, diese Probleme in Erwachsenenfilmen zu zeigen – deshalb haben wir versucht, sie am Beispiel von und mit Kindern darzustellen. Außerdem sind die Filmemacher meistens so jung, dass sie ihre Lebenserfahrungen besser so rüberbringen konnten. Viele von ihnen haben ja Krieg erlebt und wenn sie z. B. einen Ball haben wollten, haben sie diesen mit 15 bekommen! Nach der Revolution hat sich unser Kino auch wieder auf seine Wurzeln besonnen, auf die Philosophie und Moral. Unsere erste Religion ist die von Zarathustra – und da geht es um das moralische Verhalten der Menschen. Wir schauen nicht auf die Oberfläche der Dinge, sondern gehen in die Tiefe."
Bahman Ghobadi: "Damit machen wir den technischen Vorsprung des Westens wett. Denn technisch haben wir nichts zu bieten – eben nur diese Gefühle, Gedanken."

Was wiederum die westliche Welt bereichert. Hat der Film das Leben im Dorf verändert?
Bahman Ghobadi: "Die Regierung ist auf die Probleme in der Region aufmerksam geworden. Sie will Asphalt und Strom bringen. Das Kulturministerium hat den Kampf gegen die Unbildung aufgenommen und Videos in die Dörfer gebracht. Zurzeit wird geprüft, ob Madi, der noch eine Lebenserwartung von ein, zwei Jahren hat, eine Operation in der Schweiz helfen kann. Natürlich habe ich auch Geld gegeben, nicht nur den Kindern, sondern auch denen, die sonst noch geholfen haben, z. B. den Nachbarn, die immer Feuer gemacht haben. Man muss aber aufpassen, dass es gerecht verteilt wird, sonst gibt es Kämpfe untereinander. Der Film hat auch noch nicht so viel eingebracht. Bis jetzt habe ich nur Schulden bezahlt und ein Haus für etwa 20.000 Dollar erworben, das ich für meinen nächsten Film verpfänden werde."

Das Gespräch führte Uta Beth

 

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