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Ausgabe 99-3/2004

KROKO

Produktion: LUNA-Film GmbH, in Koproduktion mit SWR, HR, RBB; Deutschland 2003 – Regie und Buch: Sylke Enders – Kamera: Matthias Schellenberg – Schnitt: Frank Brummundt – Musik: Robert Philipp – Darsteller: Franziska Jünger (Kroko), Alexander Lange (Thomas), Hinnerk Schönemann (Eddie), Danilo Bauer (Rolle), Harald Schrott (Micha), Anja Beatrice Kaul (Krokos Mutter), Kimberley Krump (Cora), Sabrina Braemer (Monika) u. a. – Länge: 92 Min. – Farbe – FSK: ab 12 – Deutscher Filmpreis 2004 in Silber – Verleih: Ventura – Altersempfehlung: ab 14 J.

Es gibt zahlreiche Coming-of-Age-Geschichten im Kino, die alle mehr oder weniger interessant sind, dem beliebten Thema aber nicht immer neue Aspekte abgewinnen können. "Kroko" gehört hier sicherlich zu den interessantesten Jugendfilmen der letzten Jahre. Denn die Geschichte selbst klingt zunächst etwas befremdlich und unglaubwürdig und die weibliche Hauptfigur wird anfangs eindeutig negativ eingeführt und gewinnt erst im Laufe der Handlung an Profil, wandelt sich zur positiven Identifikationsfigur. Dazu kommt, dass der Film eine schwierige Gratwanderung unternimmt, indem er die gängigen Klischees widersprechende Gewalt einer weiblichen Jugendlichen mit ihrer Läuterung durch die Begegnung mit körperlich schwer Behinderten verbindet, ohne dass das pädagogisch und allzu konstruiert wirkte.

Die 17-jährige Julia wird wegen ihrer bissigen und aggressiven Art von ihrer Clique "Kroko" genannt. Sie lebt mit ihrer allein erziehenden Mutter und der jüngeren Halbschwester in einem Wohnblock im Berliner Stadtteil Wedding. Außer ihrem Freund Eddie und ihrer besten Freundin Marlene darf niemand der blonden Göre zu nahe treten, schon gar nicht die Mutter, die ihr ständig Vorhaltungen macht. Kroko und ihre Clique finanzieren sich mit kleinen Diebstählen, hängen abends in der Disco ab und verschaffen sich ihren täglichen kleinen "Kick" auf Kosten anderer. Als Kroko mit einem "geliehenen" Auto einen Unfall baut und einen Radfahrer verletzt, wird sie vom Jugendgericht zu sechzig Stunden gemeinnütziger Arbeit in einer Wohngemeinschaft für Behinderte verurteilt. Widerwillig und gelangweilt tritt das Mädchen ihren Sozialdienst an, denn sie betrachtet den Umgang mit den Behinderten als pure Zumutung. Schon bald ist aber nichts mehr wie vorher und Kroko beginnt ihre führende Rolle in der Clique zu verlieren. Auch macht sie die für sie überraschende Erfahrung, dass die Behinderten eigentlich ganz ähnliche Probleme haben wie sie selbst, nur können sie ihre Bedürfnisse wesentlich freier äußern und versuchen erst gar nicht, besonders "cool" zu wirken. Einem der Behinderten gegenüber entwickelt Kroko bald echte Sympathie, doch als dieser durch ihr Mitverschulden einen epileptischen Anfall erleidet, rennt sie zunächst in Panik davon.

Der Film fügt der allgemeinen Diskussion über jugendliche Gewalt und Orientierungslosigkeit nicht nur einen bisher vielleicht weniger stark wahrgenommenen Aspekt hinzu, er bezieht auch eindeutig Position gegen demonstrative Machtgebärden und zur Schau getragene Coolness, indem Kroko ihren bisherigen Freund verlässt und sich jungen Männern zuwendet, die sich auch ohne physische Gewalt behaupten können. "Kroko" ist schließlich auch ein Film über die Stellung von Außenseitern und Randgruppen in der Gesellschaft und über eine Verständigung untereinander mittels Empathie und Toleranz. Dabei ist dem Film das Kunststück gelungen, sowohl der Jugendclique aus dem Berliner Arbeiterviertel wie den Behinderten in der WG ihre Stärken und Schwächen zu lassen, sie nicht gegeneinander auszuspielen und die Würde aller Figuren zu wahren. Die Geschichte wird ohne Umschweife, ablenkende Nebenhandlungen, ohne Erinnerungsbilder oder atmosphärische Zwischenschnitte erzählt, die Bilder wirken klar und konzentrieren sich allein auf die Figuren, die auch kameratechnisch gleichwertig, also im gleichen Blickwinkel leicht von unten gefilmt sind.

Das Spielfilmdebüt von Sylke Enders (Jg. 1965) ist eine Weiterentwicklung ihres gleichnamigen 30-minütigen Kurzfilms, den sie für die TV-Reihe "Boomtown" im Jahr 2001 realisiert hat. Franziska Jünger, die vor den Dreharbeiten eine Ausbildung als Arzthelferin angefangen hatte, spielte bereits da die Rolle der damals noch 16-jährigen Hauptfigur. Die anderen Rollen sind ebenfalls überwiegend mit Laiendarstellern besetzt. Die Behinderten hatten als feste Mitglieder des Berliner Theaters Thikwa (als einziges Theater in ganz Deutschland ermöglicht es Behinderten eine künstlerisch qualifizierte Ausbildung zur Erwerbsarbeit) zwar alle schon Bühnenerfahrung, standen hier aber ebenfalls zum ersten Mal vor der Kamera.

Holger Twele

 

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Ausgabe 99-3/2004

 

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