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Ausgabe 54-2/1993

"Die Leute wollen uns immer erzählen, wie wunderbar es ist, ein Kind zu sein"

Gespräch mit Gila Almagor. Produzentin und Hauptdarstellerin des Films "Aviyas Sommer"

(Interview zum Film AVIYAS SOMMER)

Gila Almagor war bei der Berlinale 1993 in dem israelischen Wettbewerbsbeitrag "Das Leben, wie von Agfa bezeugt" ("Ha Chayim Alpy Agfa") in einer Hauptrolle zu sehen, und sie war Gast in Berlin. KJK-Mitarbeiter Markus Aicher sprach bei dieser Gelegenheit mit Gila Almagor über den 1988 entstandenen Film "Aviyas Sommer", der jetzt im 16mm-Verleih verfügbar ist.

KJK: Sehen Sie Ihren Film "Der Sommer von Aviya" als Kinderfilm?
Gila Almagor: "Eigentlich überhaupt nicht. Das Buch ('Der Sommer von Aviya', wonach später der Film entstand, Anm. d. R.) wurde vom größten israelischen Verlag herausgegeben. Die Verlagsleute dachten, dass es etwas für jüngere Leser sein würde. Sie druckten es daher im Großdruck und es gab auch Zeichnungen im Buch. Als es herauskam, meldeten sich die Kritiker zu Wort. Sie fragten: Warum dieser Großdruck und die Aufmachung wie bei einem Kinderbuch? Es ist ein Buch für Erwachsene. Und dann wurde es sofort zu einem Buch für die ganze Familie. Mittlerweile ist 'Der Sommer von Aviya' Bestandteil des israelischen Lehrplans geworden. Um sich an den Grundschulen und in den Gymnasien anzumelden, können die Schüler statt anderer Prüfungen auch eine Arbeit über den 'Sommer von Aviya' schreiben. Das Buch berührt viele Themenkreise: der Holocaust aus der Sicht der zweiten Generation, ein Kind ohne Eltern, eine alleinstehende Mutter, ein krankes Familienmitglied, die israelische Gesellschaft der damaligen Zeit und ihre Haltung gegenüber den Überlebenden – es gibt so viele verschiedene Aspekte. Die Schüler schreiben viele Arbeiten über das Buch. Und dann kam der Film, und er wurde ein riesiger Erfolg bei Kindern und Erwachsenen."

Hatten Sie das erwartet?
"Nein, ich habe überhaupt nichts erwartet. Denn ich habe das Buch in einer Art Trance geschrieben. Ich schrieb es, ohne mir darüber bewusst zu sein, dass es ein Buch werden sollte. Ich schrieb um meiner selbst Willen und um nicht zu explodieren. Ich machte damals die schlimmste Phase meines Lebens durch. Es ging mir wirklich schlecht. Ich war total unten und dann plötzlich – ich glaube, es war durch Gottes Hilfe, er beschützte mich so gut – begann ich zu schreiben. Ich glaubte nicht, dass das irgendjemand lesen würde, sondern dachte, ich werde das fertig schreiben und dann das Geschriebene zerreißen und in der Toilette runterspülen."

Sie hatten also nicht daran gedacht, aus diesem Stoff einen Film zu machen?
"Nein, nein. Erst als ich las, was ich geschrieben hatte, sagte ich: Mensch, das könnte ein Film sein. Ich dachte auch gar nicht an ein Buch – und dann wurde das Buch ein großer Erfolg. Ich machte auch ein 'Ein Personen'-Theaterstück daraus, in dem ich selbst spiele, übrigens auch in Deutschland. Und dann machte ich den Film. Irgendwie war das alles sehr eigenartig, ich war absolut überrascht. Als der Film in Hongkong gezeigt wurde, stand am nächsten Tag in der Zeitung: '1000 Menschen weinten gestern Abend.' Weinten sie über meine Mutter, weinten sie über ihre Mütter? Ich begann zu verstehen, wie universell diese Geschichte ist. Ein verzweifeltes Kind ist und bleibt ein verzweifeltes Kind. Oder auch ein Kind in Not."

Was können Kinder aus Ihrem Film für sich mitnehmen?
"Zunächst einmal können sie sich mit der Protagonistin identifizieren, mit einem Kind, das kämpfen muss. Das Mädchen muss einiges durchstehen, sie kämpft und sie macht es sich nie leicht. Man sieht sie im Film nie lächeln. Sie steht da und muss sich mit soviel auseinander setzen. Ein Kind kann das sehen, und es gibt so viele Kinder, die mit alleinstehenden Müttern leben. Kranke Eltern gibt es überall auf der Welt. Ein Kind zu sein, ist sehr, sehr schwer. Es ist ein andauernder Kampf. Die Leute wollen uns immer erzählen, wie wunderbar es ist, ein Kind zu sein oder wie glücklich die Kindheit ist. In Wirklichkeit ist die Kindheit für manche Kinder nicht immer eine glückliche Zeit. Die Kinder können sich mit dem Mädchen im Film wirklich identifizieren. Ich habe mehr als tausend Briefe von Kindern erhalten. Sie wollen wissen, wie die Geschichte weitergeht. Sie wollen wissen, wie Aviyas Winter aussieht. Wird das Kind allein bleiben oder wieder mit seiner Mutter zusammenkommen. Als wir den Film das erste Mal vor Kindern gezeigt haben, unterhielt ich mich nachher mit ihnen. Die erste Frage war: Was wurde aus Aviya? Und dann rief ein Kind: Sie wurde Gila Almagor. Das hatte ich nicht gedacht. Ich hatte ja dem Mädchen im Film einen anderen Namen gegeben und auch versucht, meine Person von der Figur des Mädchens zu trennen."

Wollen Sie eine Fortsetzung vom "Sommer von Aviya" machen?
"Es wird nicht der 'Winter von Aviya' sein und es wird auch kein Lebewohl an Aviya sein. Ich habe ein neues Buch geschrieben, das vor vier Monaten herausgekommen ist. Es hat sich bereits zum Bestseller entwickelt. Es wird auch in Deutschland erscheinen, aber ich weiß nicht, wie der deutsche Titel sein wird. Ich weiß nicht, ob sie es 'Der Baum oben auf dem Berg' oder so ähnlich nennen werden. Es geht um eine Gruppe von Jugendlichen, die den Holocaust überlebt haben und spielt in Israel im Jahre 1953. Ihre Geschichte wird mit den Augen eines jungen israelischen Mädchens gesehen, und dieses Mädchen ist Aviya."

Wird dieses Buch auch verfilmt werden?
"Ja. Die Pre-Production ist bereits in Vorbereitung."

Wenn wir am Ende dieses Interviews jetzt ein Assoziationsspiel machen würden, und ich würde Sie fragen, was Kinder für Sie bedeuten – was würden Sie mir antworten?
"Hoffnung, Hoffnung. Es ist kein Honigschlecken, ein Kind zu sein, aber Hoffnung, Hoffnung, Hoffnung."

Interview: Markus Aicher

 

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