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Ausgabe 86-2/2001

"Sie haben mir mehr gegeben"

Gespräch mit Nabil Ayouch, Regisseur des marokkanisch-französisch-belgischen Spielfilms "Ali Zaoua"

(Interview zum Film ALI ZAOUA)

KJK: Warum haben Sie Ihren Film über die Straßenkinder von Marokko mit diesen Kindern unbedingt machen wollen?
Nabil Ayouch: "Weil ich an diesen Film glaube, und zwar schon lange. Ich stamme aus Fes im Herzen von Marokko und wenn ich mit meinem Großvater durch die Stadt spazierte, sah ich die schwarzen Kinder mit verschleiertem Blick bei den Autos hocken und schnüffeln – damals konnte ich natürlich nicht begreifen, was sie da machten, aber diese Bilder blieben mir im Gedächtnis, seit ich fünf Jahre alt war. Als ich älter wurde, hatte ich die Idee, darüber einen Film zu machen – aber ich wusste nicht, wie ich darüber erzählen könnte. Es gibt ja schon einige wundervolle Dokumentarfilme, denen nichts hinzuzufügen ist. Bis ich dann Dr. Najat M'Jid traf – sie ist Vorsitzende des Vereins 'Bayti' ('Mein Zuhause'), der sich um die Straßenkinder in Casablanca kümmert. Eine große Persönlichkeit, die mir sagte: Wenn Sie sich mit diesem Phänomen auseinander setzen, dürfen Sie sich nicht von Gefühlen wie Mitleid und Schuld leiten lassen, sondern müssen versuchen, die Kinder und ihre Motive zu verstehen und zu respektieren."

Sich angesichts der Kinder nicht schuldig zu fühlen, wenn man es selbst so viel besser hatte, ist aber nicht leicht, oder?
"Nein. Als Mitglied dieser Gesellschaft bin ich Teil dieses Problems und deshalb wollte ich gern an seiner Lösung mitwirken. Denn wenn die Lösung nicht von den Leuten kommt, die nicht verstehen, dass diese Kinder sehen, hören, fühlen, lieben und denken können, dass sie Freunde und Träume haben wie andere auch, wird es keine Lösung geben. Eben dieses Bewusstsein habe ich mit meinem Film zu wecken versucht. Und da ich ja von mir selbst weiß, dass sie diese Kinder lediglich als Bestandteil des Straßenbilds, ihrer gewohnten Umgebung wahrnehmen, weiß ich auch, dass sie sich eine Reportage mit aggressiven Anklagen und Schuldzuweisungen gar nicht erst angucken würden. Um ihre Sicht zu verändern, mussten sie einbezogen werden in das Problem dieser Kinder, angezogen werden von der Geschichte. Erst, wenn sie die Straßenkinder als das begreifen, was sie sind, nämlich als junge Menschen, die ihre eigenen Kinder sein könnten, können sie ihre Haltung ändern."

Was können sie dann tun? Immer nur Geld geben, wenn sie auftauchen?
"Man muss ihnen kein Geld geben. Es ist nicht damit getan, jemandem Fisch zu geben, man muss ihn lehren zu fischen, damit er aus eigener Kraft leben kann. Also kein Geld, sondern Respekt. Man muss gelten lassen, dass sie sich für dieses Leben entschieden haben, denn für manche von ihnen ist es wirklich eine bewusste Entscheidung. Weil sie familiäre Probleme haben, sehr oft ausgelöst durch die Scheidung der Eltern, weil sie zu viert oder fünft in einem winzigen Raum leben müssen, es gibt viele Gründe, warum sie von zuhause fortgehen und auf der Straße leben. Sie bedürfen der Zuwendung und deshalb ist das Schlimmste für sie, wenn man sie gar nicht zur Kenntnis nimmt, einfach übersieht. So war es eine der größten Lektionen dieses Films – er lief seit Ende Oktober in drei oder vier verschiedenen Städten Marokkos –, dass zu den Premieren Tausende von Menschen kamen, die ihnen zuvor nicht mal zehn Sekunden geschenkt hatten und ihnen nun anderthalb Stunden aufmerksam zusahen. Danach haben mir viele Leute erzählt, dass sie das Bedürfnis hatten, auf die Straßen zu gehen und mit den Kindern zu sprechen. Ich habe das auch mit eigenen Augen beobachtet. Als ob sie gerade entdeckt hätten, dass es diese Kinder wirklich gibt, dass sie ganz in ihrer Nähe leben. Das gilt ja nicht nur für Marokko, sondern auch für die anderen afrikanisch-arabischen Länder im Süden, wo man vor diesen Problemen seit 30 oder 40 Jahren die Augen verschließt. Aber mit einem Mal sprach jeder über die Straßenkinder von Marokko, auch die Politiker. Die Zeitungen schrieben über sie, im Fernsehen gab es eine Hilfs-Kampagne über mehrere Wochen, jeder entdeckte sein Herz für die Kinder und rührte sich. Für sie bedeutet es eine Aufwertung – auch wenn die Gefahr besteht, dass jetzt alles zu viel, zu plötzlich und zu unkoordiniert ist und es bei der spontanen Reaktion bleibt. Aber wenn man diesem Problem nun eine Priorität einräumt, können wir langsam daran gehen, diese Hilfe so zu organisieren, dass sie effizient ist. Anstatt übereilt zu handeln, müssen wir eine Langzeit-Strategie entwickeln – es ist nicht damit getan, ein paar Häuser für sie zu bauen."

Wie haben die Straßenkinder bei der Vorführung reagiert?
"Ich glaube, sie waren vor allem stolz über die Reaktionen ihrer Angehörigen. Vor der Aufführung hatten sie große Angst vor ihren Familien und ich auch. Aber als zum Beispiel der kleine Boubker gesehen hat, wie stolz sein Vater dort auf ihn war, war das für ihn das Wichtigste. Boubker hatte eigentlich nichts entbehrt, bis seine Mutter an Krebs starb. Sein Vater aber hat ihn geschlagen. Er war zehn Jahre beim Militär in der Sahara und weil Boubker seinen Geschwistern nicht ähnlich sieht, hatte er den Verdacht, dass er von einem anderen Mann stammt. Er hat ihn vollkommen abgelehnt, bis er nun den Film gesehen hat."

Wie haben Sie Kontakt zu den Kindern bekommen?
"Das hat insgesamt anderthalb Jahre gedauert und 'Bayti' hat mir dabei sehr geholfen. Zu Anfang hatte ich noch die Vorstellung, dass ich zu ihnen mit der Kamera gehen könnte, um ein paar Reaktionen einzufangen. Aber sie spielten nur mit mir und logen mir die Hucke voll wie in der Interview-Szene zu Anfang des Films. Sie sind ja die besten Schauspieler der Welt und die Gesellschaft lehrt sie, wie man am wirkungsvollsten lügt. Naja, auf diese Weise machten sie mir unmissverständlich klar, dass sie keine Anteilnahme von Leuten wollten, die sich zuvor niemals für sie interessiert hatten. Sie wollten, dass ich mich zu ihnen setze und mit ihnen rede, mit ihnen Fußball spiele, esse, was sie essen, trinke, was sie trinken, schlafe, wo sie schlafen. Nach einer Woche hatte ich begriffen und ließ meine Kamera zu Hause. Ich habe dann viel Zeit mit ihnen verbracht und als sie überzeugt waren, dass ich wirklich verstehen wollte, gab es diese Grenze nicht mehr zwischen uns. Ich erkannte, wie verschieden sie waren, denn zunächst sahen sie für mich ja fast gleich aus, kamen mir in ihrer Lebensweise vor wie ein Wolfsrudel auf der Suche nach Nahrung, einem Schlafplatz und Schutz, ihrer instinktiven Anlehnung an den Chef. Erst als ich ihre Regeln, die ungeschriebenen Gesetze, die Plätze, an denen sich ihr Leben abspielt, erst als ich all das wirklich kannte, bin ich in ein paar andere Städte Marokkos gereist und habe über den Film nachgedacht, hat sich die Geschichte nach und nach aufgebaut. Dann erst habe ich mich auf die Suche nach den Darstellern begeben."

Das war für Sie selbst auch eine große Erfahrung, nicht wahr?
"Ja, natürlich, das war eine riesige menschliche Erfahrung, größer als die, die sie für mich als Filmemacher bedeutet. Und ich bin sicher, sie gaben mir mehr als ich ihnen geben konnte. Während du sie beobachtest, lernst du so viel über dich selbst, über deine Familie, über deine Beziehungen zu Menschen, wer du überhaupt bist. Der Kontrast ihrer jungen Jahre zu ihrer Lebenserfahrung ist so immens groß, dass es in dir jeden Tag so was wie eine Explosion auslöst. Und selbst wenn sie auch eine Menge bei diesem Experiment gelernt haben, wir haben von ihnen bestimmt mehr gelernt."

Haben Sie noch Kontakt zu den Kindern?
"Immer. Wenn ich sie eine Woche nicht sehe, rufen sie an. Also wir sehen oder sprechen uns jede Woche."

Großes Aufsehen und etliche Preise haben Sie 1997 mit Ihrem ersten Spielfilm "Mektoub" gewonnen, der bei der damaligen Berlinale im "Forum" gezeigt wurde. Gibt es eine formale oder thematische Verwandtschaft zu "Ali Zaoua", der ja auch schon einige Preise gewonnen hat und von Marokko für den Oscar nominiert wurde?
"Beide Filme beziehen ihren Stoff aus der sozialen Wirklichkeit von Marokko. Bei 'Mektoub' ging es um Korruption. Aber die Fiktion steht in beiden Filmen an erster Stelle. Ich will auch in Zukunft nicht auf die Rolle des Sozialfilmers festgelegt werden."

Beruht Alis Traum von der Insel mit den zwei Sonnen auf einem Märchen oder einer marokkanischen Legende?
"Nein, das haben wir uns ausgedacht, mein Drehbuchschreiber und ich. Als wir mit den Kindern über ihre Träume gesprochen haben, waren wir überrascht, dass sie die gleichen Träume hatten wie jedes Kind: zu heiraten, ein Haus zu haben und eine Arbeit. Und wir haben versucht, diesen Traum symbolisch zu fassen."

Aber eine Sonne ist nicht genug?
"Wie Sie sagen, eine Sonne ist nicht genug."

Sie träumen auch viel, oder?
"Ja, ich bin ein Träumer. Meine Frau sagt immer: Heh, komm zurück!"

Das Gespräch führte Uta Beth

 

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