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Ausgabe 90-2/2002

HAPPY TIMES

XINGFU SHIGUANG

Produktion: Guangxi Filmstudios / Zhu Hai Guo Gi Enterpreise Development Company / Beijing New Picture Distribution Company; VR China 2001 – Regie: Zhang Yimou – Drehbuch: Gui Zi, nach dem Roman "Shifu, You'll Do Anything for a Laugh" von Mo Yan – Kamera: Hou Yong – Schnitt: Zhai Ru – Musik: San Bao – Darsteller: Zhao Benshan (Zhao), Dong Jie (Wu Ying), Fu Biao (Fu), Li Xuejian (Li, Zhaos Freund), Dong Lifan (Verlobte) – Länge: 94 Min. – Farbe – Verleih: Fox (35 mm) – Altersempfehlung: ab 12 J.

Es ist das zweite Mal, dass der vor allem mit seinen opulenten Geschichten aus ländlichen Regionen bereits vielfach preisgekrönte chinesische Filmemacher Zhang Yimou (in deutscher Schreibweise eigentlich Yimou Zhang) einen Spielfilm in der modernen Großstadt ansiedelt. In der Volksrepublik China war es gar die erste Kooperation zwischen Film, Fernsehen und dem Internet. Die jugendliche Hauptdarstellerin des Films wurde zunächst per Stellenanzeige über das Internet gesucht. "Happy Times" ist süßsauer zu verstehen, es handelt sich um eine Tragikomödie, die vor allem unsere Sinne und unsere Gefühle ansprechen möchte.

Der pensionierte Fabrikarbeiter Zhao hat nicht viel Glück mit den Frauen. Erfolg verspricht er sich nur, wenn er ihnen vorgaukelt, ein reicher Mann zu sein. Seine neue Flamme, eine wesentlich jüngere Frau mit ausgeprägten Rundungen und einem Sohn, der ihr in nichts nachstehen möchte, hat es tatsächlich nur auf sein Geld abgesehen. Doch Zhao ist bettelarm und merkt auch nicht, was mit ihm gespielt wird. Da er sich als Hotelmanager ausgibt, wittert die Angebetete ihre Chance, die ungeliebte blinde Stieftochter Wu loszuwerden, die einer Heirat mit einem wirklich reichen Mann im Wege steht. Zhao soll ihr einen Job im Hotel besorgen. Mit einer Mischung aus Widerwillen und Mitleid für das arme Kind startet Zhao zusammen mit seinen Freunden und ehemaligen Arbeitskollegen ein aberwitziges Täuschungsmanöver, damit seine Hochstapelei nicht aufgedeckt wird. In einer verlassenen Fabrikhalle bauen sie gemeinsam ein Massagestudio, in dem Wu arbeiten soll. Sie selbst sind die einzigen Kunden und so geht ihnen schnell das Geld aus, um Wu realistisch bezahlen zu können. Diese ist zunächst überglücklich, endlich einmal gebraucht zu werden und finanziell auf eigenen Füßen stehen zu können. Doch dann entdeckt sie, dass alles um sie herum nur eine Attrappe ist und auch Zhao kann es nicht länger ertragen, das blinde Mädchen so zu täuschen, das er längst fest in sein Herz geschlossen hat.

Beide Hauptfiguren sind von Blindheit geschlagen, der in einer Traumwelt lebende Pensionär im übertragenen Sinn, während Wu physiologisch erblindet ist. Sie nimmt ihre Umwelt mit anderen Sinnen jedoch sehr sensibel wahr und daher kann sie Zhao schließlich das unverstellte Fühlen und das "richtige" Sehen lehren. Diese Art von Sensibilisierung für eine bewusstere Wahrnehmung der Innenwelt wie der äußeren Umgebung wäre mit hektischer Handkamera, die Authentizität oft nur vorgaukelt, natürlich nicht zu erreichen. Deshalb lässt sich Zhang Yimou viel Zeit, bis aus den Karikaturen der Erwachsenen wieder lebendige Figuren geworden sind. Der Zuschauer hört und "ertastet" die Geschichte mit den Sinnen der unerfahrenen und unbescholtenen Wu und sieht gleichzeitig die Diskrepanz dieser Wahrnehmungsebene durch die Augen des in vielen Dingen lebenserfahrenen Zhao. Aus diesem dramaturgisch genutzten Spannungsbogen entstehen Vergnügen und Erkenntnis. Nur wer beide Ebenen nicht zu verbinden weiß, mag den Film für platt und unglaubwürdig halten. Eine dritte Wahrnehmungsebene ergibt sich aus den zahlreichen Beratungsgesprächen der Erwachsenen, wie am besten mit dem "Problem Wu" umzugehen sei.

Aus dem klassischen Gegensatz von Schein und Sein entwickelt sich die Annäherung der beiden ungleichen Protagonisten, die schließlich voneinander lernen und sich weiterentwickeln. Zhao werden die dem Publikum ohnehin nie verständlich gemachten Gefühle für seine "Flamme" immer unwichtiger und als Illusionen eines bisher auf Äußerlichkeiten fixierten Mannes sichtbar. Und Wu könnte zwar enttäuscht sein, dass sie von ihren neuen "Freunden" so offensichtlich getäuscht wurde, aber sie spürt, dass dies weniger aus Eigennutz denn aus echter Zuneigung und Fürsorge geschehen ist. Als Ziehtochter wird sie mit Respekt von ihrem Ersatzvater akzeptiert und das befähigt sie am Ende dazu, ihren eigenen Weg zu gehen.

Mit diesem Porträt eines starken Mädchens, das trotz aller äußeren Widrigkeiten unbeirrbar den eigenen Weg geht, führt Zhang Yimou das Thema seines vorangegangenen Films "Keiner weniger" fort und ergänzt es um das Motiv eines alten Mannes, der lernt, wieder Kind zu sein. Auch dies ist in gewisser Hinsicht ein pädagogischer Film, kein belehrender freilich, sondern einer mit einer zutiefst menschlichen Geschichte voller Humor und emotionaler Tiefe.

Holger Twele

 

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