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Ausgabe 130-2/2012

GUTE CHANCEN

PATATJE OORLOG

Produktion: Lemming Film in Koproduktion mit Nederlandse Christelijke Radio Vereniging und A Private View; Niederlande / Belgien 2011 – Regie: Nicole van Kilsdonk – Buch: Lotte Tabbers, nach dem Kinderbuch "Een kleine kans" (Tote Maus für Papas Leben) von Marjolijn Hof – Kamera: Jeroen de Bruin – Schnitt: Wouter Jansen  Musik: Melcher Meirmans, Merlijn Snitker, Chrisnanne Wiegel – Darsteller: Pippa Allen (Kiek), Johnny de Mol (Thomas), Rifka Lodeizen (Esmee), Leny Brederveld (Lies), Ruben van der Meer (Hayo) u. a. – Länge: 87 Min.  Farbe – Weltvertrieb: Delphis Films, Montreal/Kanada, Tel. +1 514 – 843 3355, E-Mail: xiao@delphisfilms.com – Altersempfehlung: ab 8 J.

Die bisher vor allem als Drehbuchautorin und Fernsehregisseurin tätige Journalistin und Filmemacherin Nicole van Kilsdonk schaffte es mit ihrem Kinofilm auf Anhieb in die Riege niederländischer Filmschaffender, die exemplarisch für das seit Jahren anhaltende Erfolgsrezept des Kinderfilms in unserem Nachbarland stehen: spannend und unterhaltsam erzählte Geschichten aus der vielschichtigen Alltagsrealität von Kindern, die sich auch an schwierige Themen wagen und sie mutig und vor allem mit viel Humor umzusetzen wissen.

Der Originaltitel "Patatje oorlog" steht für Pommes mit Mayo, rohen Zwiebeln und scharfer Saté-Soße, meint wörtlich übersetzt "Pommes Krieg". Dieser Titel steht nicht etwa für eine kulinarische Exkursion, sondern sinnbildlich für ein Ereignis, das für die neunjährige Kiek von entscheidender Bedeutung ist. Ihr Vater arbeitet als Arzt und engagiert sich gegen den Willen seiner Familie vor allem für Menschen in Krisenregionen und Kriegsgebieten fern der Heimat. Kiek erklärt sich das damit, dass dem Vater das Gefühl dabei besonders wichtig ist, wirklich "gebraucht" zu werden. Obwohl er nicht mit der Waffe kämpft, sondern als medizinischer Helfer tätig ist, könnte auch sein Leben unmittelbar bedroht sein. Aber das sei doch sehr unwahrscheinlich, meint Kieks Mutter, als der Vater wieder einmal im Einsatz ist. Doch diesmal läuft alles anders. Kieks Vater meldet sich plötzlich nicht mehr aus der Krisenregion und gilt bald offiziell als verschollen. Mit vom Lehrer ahnungslos vermittelten Grundkenntnissen der Wahrscheinlichkeitstheorie versucht Kiek, das Schicksal aktiv zu beeinflussen und die Überlebenschancen des Vaters zu erhöhen. Kiek kennt niemanden, der gleichzeitig eine tote Maus, einen toten Hund und obendrein noch einen toten Vater hat. Ihrer eigenen Logik nach verringert sich daher die Wahrscheinlichkeit dafür, dass dem Vater etwas zugestoßen ist, indem Kiek eine tote Maus und vielleicht sogar auch einen toten Hund besitzt, denn alle drei Ereignisse zusammen sind deutlich unwahrscheinlicher als eines allein. Tierfreunde seien an dieser Stelle vorab beruhigt, dass der fantasievolle Film mit einfacher Logik trotzdem nicht allzu viel am Hut hat, selbst wenn sich am Ende des Films nicht alles nur in Wohlgefallen auflöst.

Immer bleibt der Film unmittelbar an der quirligen, perfekt gecasteten kleinen Heldin und ihrer Erlebniswelt dran. Wenn Kiek von den Erwachsenen mal aus dem Zimmer geschickt wird, erfährt auch das Publikum nicht mehr als sie selbst bereits ahnt. Liebevoll mit augenzwinkerndem Humor eingefügte Animationen im Stoptrick-Verfahren visualisieren mehrfach ihre Fantasien, mehr noch ihre gedanklichen Überlegungen, welche Alternativen und Handlungsmöglichkeiten es in bestimmten Situationen geben könnte, denn Kiek ist auch ein Kopfmensch. Von Natur aus ist sie keineswegs überängstlich. Der Vater hat sie schon beim Skateboardfahren ermutigt, etwas zu riskieren und Stürze gleich einzukalkulieren. Vor seinen gefahrvollen Reisen erinnert er sie ständig an die Geschichte vom ängstlichen Menschen, der sich nie aus dem Haus traut und schließlich von einem auf das Haus fallenden Baum erschlagen wird. Dennoch macht der Film deutlich, wie sehr es in Kiek arbeitet, wie sehr sie unter der inneren Anspannung über das ungewisse Schicksal ihres Vaters zu leiden hat. Beispielsweise erhält Kiek gleich nach der Abreise des Vaters die Hauptrolle in der Schulaufführung des Musicals "Peter Pan". Zunächst ist sie begeistert von der Rolle, doch je mehr sie sich um ihren Vater sorgt, desto weniger ist sie bei der Sache, gibt ihre Rolle ab und möchte schließlich nur noch einen Baum spielen – vielleicht, um wenigstens auf diese Weise das Schicksal noch aktiv beeinflussen zu können.

Im Berlinale-Wettbewerb der Sektion Generation Kplus 2012 ging der Film zwar leer aus. Stattdessen erhielt er wenige Wochen später auf dem BUFF-Festival in Malmö den Preis der ECFA-Jury mit der Begründung, dass der Film "mit viel Humor und Ernsthaftigkeit den inneren Konflikt eines Mädchens" zeige und er "von einem einfühlsamen und überraschenden Drehbuch" getragen sei, das die Geschichte konsequent erzählt und immer dicht am Publikum bleibt. So ein Film gehört unbedingt auch ins deutsche Kinderfilmprogramm.

Holger Twele

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 130-2/2012 - Interview - "Ganz dicht an die Hauptfigur heran"

 

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Ausgabe 130-2/2012

 

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Hintergrundartikel

DIE KINDER VOM NAPF|


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