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Ausgabe 130-2/2012

UN MUNDO SECRETO

Produktion: Sobrevivientes films; Mexiko 2012 – Regie und Buch: Gabriel Mariño – Kamera: Iván Hernández – Schnitt: Pedro G. García, Gabriel Mariño – Musik: Andrés Sánchez – Darsteller: Lucía Uribe (María), Roberto Mares (Juan), Olivia Lagunas (Rosita), Claudia Ríos (Mutter) u. a. – Länge: 87 Min. – Farbe – Weltvertrieb:  Shoreline Entertainment, Los Angeles/USA, E-Mail: info@slefilms.com – Altersempfehlung: ab 16 J.

Mexiko-Stadt. Die Sonne hängt bereits tief am Himmel, der Verkehr rauscht hörbar durchs Bild. Wenige Einstellungen später befinden wir uns am Fuße eines Treppenaufgangs. Hier ist es angenehm still. Die Kamera dringt weiter ins Innere ein. Auf dem Flur einer Wohnung stört ein neues Geräusch die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf, leise ist das Ächzen eines Bettes zu hören. Schließlich sieht man die 18-jährige María beim freudlosen Beischlaf mit einem jungen Mann. Unverzüglich lassen der unsentimentale Kamerablick und der akzentuierte Einsatz von Umweltgeräuschen die kommunikative Isolation der Heldin und den eintönigen Stumpfsinn ihrer Umgebung plastisch vor Augen und Ohren erstehen. Gleichwohl erhofft sich die junge Frau nichts sehnlicher als endlich 'gesehen' zu werden. In einem Tagtraum hat sie ihr ungestilltes Begehren ausgemalt: Sie sitzt am Strand, die Sonne hat sich schwarz verdunkelt, es ist kalt. Während María von der eigenen Mutter verlacht wird, erwartet sie im Meer ein Wal. Sie geht zu ihm ins Wasser hinein und erfährt, wonach sie sucht: Wärme, Licht, Tiefe.

Um ihren Tagtraum wahr werden zu lassen, macht sich die Protagonistin am Abend ihres Schulabschlusses auf an die Küste im Norden des Landes. Unterwegs lernt sie zwei Menschen kennen, die ihre Enttäuschung teilen und trotzdem die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht aufgegeben haben. So wird sie von einer jungen Frau, die auf die Rückkehr ihres Mannes wartet, für die Nacht aufgenommen. Doch die Fürsorge ihrer freundlichen Gastgeberin scheint die junge Reisende nicht aushalten zu können, mitten in der Nacht schleicht sie sich davon und lässt sich von einem Mann in einem Café aufgabeln, der sie mit Luxus lockt. Nach diesem Erlebnis fühlt sie sich wie eine Hure, spürt, wie leicht sie korrumpierbar ist. María lernt daraufhin Juan kennen, der seine Eltern verlassen hat. Er will seinen Lebensunterhalt selbstständig verdienen, ohne wie viele seines Alters in der Drogenkriminalität zu enden. Dem scheuen jungen Mann öffnet sie sich vorsichtig und verlebt mit ihm eine zärtliche Nacht. Am Sehnsuchtsort angekommen, erfüllt sich ihr Tagtraum. Als sie mit einem Boot vor die Küste fährt, tauchen aus der Tiefe Wale auf, die sie tatsächlich berühren kann.

Mit Marías Rettungsphantasie hat der Regisseur ein klassisches Motiv adaptiert. Drei Tage verbrachte Jona im Bauch eines Wals, um wieder ins Leben zurückzukehren. Und auch María ist aus ihrer Initiationsreise, im übertragenen Sinn: am Ende der Nacht, gereifter hervorgegangen. Was ihr die Menschen zuhause versagten, das hat die junge Frau auf ihrem Weg in die Natur gefunden. Sie hat ihre Perspektive, wie die Kamera visualisiert, geradezu auf den Kopf gestellt. Zur Charakterisierung der seelischen Verfassung seiner Heldin arbeitet Gabriel Mariño überzeugend mit der Schärfentiefe. Wenn etwa María am Morgen nach ihrem frustrierenden sexuellen Erlebnis in der Küche frühstückt, dann bleibt die Mutter unscharf im Hintergrund, obwohl sie sich mit der Tochter unterhält. Weil sie sich, wie das Gespräch erhellt, nicht wirklich für die Belange ihres Kindes interessiert.

Dem Regisseur ist mit "Un Mundo Secreto" eine unaufgeregte, atmosphärisch dichte Zeichnung des Seelenzustandes seiner weiblichen Hauptfigur gelungen, die von der Newcomerin Lucía Uribe glaubwürdig und sympathisch gespielt wird. Wie Mariño bei der Vorführung des Films auf der diesjährigen Berlinale hervorhob, möchte er die Erfahrungen der jungen Frau als die einer ganzen Generation verstanden wissen. Es scheint, als könne die mexikanische Jugend in dem wirtschaftlich und sozial zerrütteten Land keine Zukunft haben. Dass der Regisseur der Verrohung und einer zerstörten Stadtlandschaft Meeresrauschen und eine intakte Natur als Idee der gesellschaftlichen Gesundung entgegenhält, mag eine schlichte Bildfindung sein, aber sie bezaubert den Zuschauer doch.

Heidi Strobel

 

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Ausgabe 130-2/2012

 

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