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Ausgabe 130-2/2012

"Keine Erklärungen, kein Kommentar"

Gespräch mit Alice Schmid zu ihrem Film "Die Kinder vom Napf"

(Interview zum Film DIE KINDER VOM NAPF)

Die Schweizer Filmemacherin und Schriftstellerin Alice Schmid, 1951 in Luzern geboren, gründete im Jahre 1996 in Zürich die Filmproduktion Ciné A.S., in der zahlreiche Dokumentarfilme mit und über Kinder entstanden, die ihr internationale Anerkennung einbrachten (Beispiele: "Sag nein" über Kindsmissbrauch, 1993; "Ich habe getötet" über Kindersoldaten in Liberia, 2000). Ihre engagierten Beiträge wurden mehrfach preisgekrönt, so erhielt sie für "Ich habe getötet" den FIPA d'Or beim Internationalen TV-Filmfestival in Biarritz. Für ihren Debütroman "Dreizehn ist meine Zahl" wurde sie 2010 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

KJK:  Sie haben in vielen Teilen der Welt aufrührende Filme mit Kindern für Erwachsene gedreht und dafür etliche Preise bekommen. Wollten Sie nie mit Kindern für Kinder in der Schweiz drehen?
Alice Schmid: Ich wollte schon immer da oben im Napfgebiet drehen, wo ich diese Veränderungen der Jahreszeiten immer so stark erlebt habe, aber ich fand nie Geld. Ich habe ein paar Mal für Förderungen angefragt, habe Konzepte geschrieben  immer Ablehnungen. Und da ich ja Geld verdienen musste, habe ich in Bolivien, in Kambodscha, Nepal, Tibet, in Sierra Leone und Liberia gearbeitet. Ich war in so vielen Ländern, so vielen Krisengebieten, jedes Jahr ein neues Land, und kam ich zurück, was macht' ich als erstes? Ich ging in den Napf und nach drei Tagen war ich regeneriert. In dieser Landschaft dort einen Film zu machen, war ein Lebenswunsch und der wurde jetzt wahr. Man hat mich sogar darum gebeten, nachdem ich anlässlich der Ernennung von Romoos zur Kulturhauptstadt der Schweiz 2009 mit den Kindern an der dortigen Schule ein Projekt zum Kulturbegriff erarbeitet und daraus unter dem Titel "Kultur ist so alt wie die Bohne" ein Buch gemacht habe.

Sie haben so viele Kinder auf der Welt kennen gelernt – was unterscheidet die Bergbauernkinder?
Sie haben Eltern, sie haben ein Zuhause, sie übernehmen Verantwortung, lernen das schon ganz langsam in ihrer Kindheit, unbewusst noch – zum Beispiel, wenn ein Kalb zur Welt kommt; sie haben diesen Rhythmus mit der ständigen Wiederholung der anfallenden Arbeiten im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter. Und was mir vor allem aufgefallen ist: Wenn die Kinder einen Schnupfen oder irgend so etwas haben, die gehen nicht zum Arzt, die wissen, was zu machen ist. Ihre Mütter setzen dort sehr bewusst ihre selbst hergestellten Naturprodukte ein. Also: Sie führen ein Leben mit großer Eigenverantwortung und das ist natürlich in Kriegsländern und Städten mit Straßenkindern ganz anders – die nehmen ihr Leben zwar auch selber in die Hand, gezwungenermaßen, jedoch ohne Vorbild, dem Schicksal ergeben, oft mit einer düsteren Zukunftsperspektive.

Die Eigenverantwortlichkeit der Kinder vom Napf spürt man in jedem Augenblick – und das Besondere an Ihrer Dokumentation ist, dass man das indirekt mitkriegt.
Schon als ich meinen ebenfalls dort angesiedelten Roman "Dreizehn ist meine Zahl" schrieb, habe ich mir gesagt: Da gibt es keine Erklärungen. Und in diesem Film gibt es auch keinen Kommentar, nichts, der Zuschauer muss selbst merken, was ist, selbst seine Schlüsse ziehen – und wenn ich das schaffe, dann habe ich etwas geschafft!

Eine Verständnisfrage. Bei welcher Gelegenheit ziehen die Kinder mit den Laternen durch den Wald? Erst dachte ich an einen Maskenlauf, aber hier wird das ja mit Weihnachten verbunden.
Eigentlich ist das zu Sankt Nikolaus. Die haben die Tradition, dass sie dann mit ihren selbst gemachten Laternen, die sie jedes Jahr basteln, in den Wald hoch gehen, hoch, hoch, und den Sankt Nikolaus oben abholen, der dort mit seinem Esel im Wald versteckt auf sie wartet. Das ist dann natürlich einer der Väter. Diese Abhol-Szene habe ich aber nicht gedreht, aber beim Schneiden schien mir das Material mit den Laternen irgendwie so sakral, dass ich es mit diesem "Stille Nacht" verbunden habe.

Dann spielt die Szene vor dem Feuer sicherlich auch zu Sankt Nikolaus …
Nein, das ist, wenn sich die Bauernfamilien kurz vor Weihnachten treffen, um alle miteinander in der Kirche das "Stille Nacht" zu singen, und sich danach am Holz-Feuer, das die Väter schon vorbereitet haben, die Hände wärmen. Dazu gibt's dann Kuchen und Kaffee oder Tee, jedes Jahr.

Ich wüsste gern etwas über Ihre Beziehung zu Romoos, wie Sie dahin und überhaupt zum Film gekommen sind.
Das ist alles wie ein Schicksal – ich bin 1951 in Luzern geboren und aufgewachsen, besuchte da mit sechzehn das Lehrerseminar und gleich im ersten Jahr meiner Ausbildung ging ich mit dem Walter, einem Kollegen, im Napfgebiet wandern. Dort sind wir mit einem jungen Bauern ins Gespräch gekommen. Ich sagte so zu ihm: "Du, hast du kein leer stehendes Bauernhaus, weil da hat es sehr viele alte Häuser." Und er sagte: "Ja, ich hätt' schon ein Haus, aber da drin geistert's, Ihr könnt es haben für 80 Franken im Jahr, das wär’ auch super für uns, wir hätten dann ein bisschen Austausch und so." Wir haben natürlich gleich dieses Haus zusammen für diesen Preis gemietet und haben es heute noch. Der Walter war schon ein Nachbarskind von mir – wir sind erst zusammen ins Lehrseminar gegangen, dann wurde er Sportler, hat da hinten seinen Marathon-Sport geübt, und jetzt ist er Berufsgeiger.

Sie sind aber auch nicht in der Schule geblieben. Warum?
Nachdem ich ein Jahr unterrichtet hatte, sagte man mir: "Du bist nicht gemacht für die Schule." Ich war nämlich schüchtern, introvertiert, hatte große Hemmungen, etwas falsch zu machen, war sehr nervös, stand immer unter Stress. Und da man als Kind oder als junger Mensch immer alles eins zu eins von den Erwachsenen nimmt, glaubte ich, dass ich leider keine Lehrerin werden könne. Aber ich habe immer sehr gerne gezeichnet und gemalt und schon während der Ausbildung abends eine Kunstgewerbeschule besucht, wo ich mal per Zufall jemanden Storyboards malen sah. Das war an Ostern und der hat Osterhasen gemalt aus allen Richtungen für einen Werbefilm. Ich fragte ihn dann, wo er arbeitet und ob ich nicht bei ihm arbeiten könne, und er sagte: "Ja dann musst du nach Mailand kommen, du kannst zwar nichts verdienen, aber du kannst kommen." In Mailand hat man damals die Migro-Spots gedreht, nachts im Fernseh-Studio Televisione Monte Carlo. Und so gab ich nach einem Jahr die Schule auf, ging nach Mailand und habe da unten ein Jahr gearbeitet. Ja, so begann meine Karriere.

Sind diese Projekttage, an denen die Klassen jeweils einen der Schüler zuhause besuchen, eigentlich in das Schul-Pensum von Romoos integriert oder haben die das extra für den Film gemacht?
Die haben nichts, keine Sekunde für den Film gemacht, überhaupt nichts. Einzig das Material, das ich vor der effektiven Drehzeit zum Kennenlernen in den ersten drei Monaten aufgenommen hatte, habe ich später eingefügt. Da hatte ich in der Schule ein leer stehendes Zimmer genommen und den Kindern angeboten, dass sie zu mir kommen und mit mir sprechen könnten. Ein Kind hat dann "Denkstube" rangeschrieben. Da durften sie auch hinter die Kamera, mich filmen, mir Fragen stellen – und so haben wir uns ganz langsam angenähert. Ich dachte immer, das ist Testmaterial, und erst gegen Schluss, nachdem ich schon beim achten Film war – ich habe nämlich insgesamt 12 Versionen fürs Kino und eine Kurzversion von 52 Minuten fürs Fernsehen geschnitten –, sah ich mir das noch mal an und merkte plötzlich, dass es gut in den Film reinpasst. Ansonsten aber war ich nur da, habe nur beobachtet. Ich hatte soooo viel – von der Fasnacht, vom Heuen, stundenlang allein die Kinder beim Fußballspiel aufgenommen, jedes Kind hat ja im Schnitt dort ein Dutzend Fußbälle! Und wenn der letzte über die Steilhügel runtergefallen ist, gehen sie Nachmittage lang unten im Bach suchen. Am Ende hatte ich über 400 Stunden Material – schließlich habe ich die Kinder jeden Tag aufgenommen, also 365 Tage bei jedem Wetter.

Der "Wolf" ist aber doch ein Hund, nicht wahr?
Ja, den habe ich ganz woanders gedreht und dann reingeschnitten. Wie der da in diesem Schnee steht, wie der so schaut und die Kinder beobachtet, das war für mich so symbolisch – ich meine, ich weiß schon, wie man eine Geschichte erzählt und habe beim Schneiden meine Strukturen schon eingesetzt.

Das Gespräch führte Uta Beth

 

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DIE KINDER VOM NAPF|


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