(Interview zum Film KAUWBOY)
Boudewijn Koole, 1965 in Leiden/Niederlande geboren, absolvierte an der Universität Delft ein Industriedesign-Studium, bevor er sich – als Audodidakt – dem Dokumentarfilm widmete. In seinen über 20 Dokumentar- und Kurzfilmen arbeitet er immer wieder mit Kindern und Jugendlichen.
KJK: Wenn ich mir die lange Liste Ihrer Filme ansehe, wundere ich mich, dass "Kauwboy" Ihr erster Spielfilm ist.
Boudewijn Koole: Ja, ich habe schon seit 1995 Dokumentarfilme gedreht, sehr oft mit und über Kinder und Jugendliche. Vor einigen Jahren habe ich dann mein einziges Fernsehspiel geschrieben: "Maite was here", das auch bei Arte ausgestrahlt wurde. "Kauwboy" ist tatsächlich mein erster Spielfilm.
Ihr Debüt-Film wurde auf der diesjährigen Berlinale nicht nur mit dem Großen Preis des Deutschen Kinderhilfswerks in der Sektion „Generation-Kplus“, sondern auch als "Bester Erstlingsfilm" des ganzen Festivals ausgezeichnet. Wie haben Sie sich angesichts dieses Erfolges gefühlt und was machen Sie mit dem Geld? Insgesamt sind es ja 57.500 Euro geworden.
Die 50.000 für den besten Debütfilm werden ja zwischen dem Produzenten und mir geteilt, mir bleiben also 32.500 Euro, was ja immer noch eine stattliche Summe ist. Ich stecke sie in die Arbeit an meinen nächsten zwei Drehbüchern. Ich war dafür schon ein paar Tage in Schweden – zusammen mit meiner Ko-Autorin Jolein Laarman. Ein gutes Script braucht ja viel Zeit und ich brauche Ruhe zum Schreiben. Um an den Kern einer Geschichte heran zu kommen, muss ich mich voll konzentrieren können. Mit diesem Geld kann ich es mir nun leisten, ein paar Verpflichtungen abzulehnen, die ich normalerweise annehmen müsste, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich investiere mein Geld also ins Schreiben. – Was nun meine Gefühle in Bezug auf den Erfolg des Filmes betrifft, muss ich länger ausholen. Die Berlinale-Auswahl eines Arthausfilmes für Kinder ist schon das Beste, was einem passieren kann. Das hat einen ersten Freuden-Ausbruch bei mir und meinem Team ausgelöst. Dann die tolle Reaktion von fast 1000 Kindern und ihren Eltern bei den drei Vorführungen. Sie lachten und weinten, es ging eine richtige Welle durch den Saal und fühlte sich an, als hätten uns die Zuschauer ganz angenommen.
Als wir dann wieder in Amsterdam waren, rief uns Florian Weghorn an und teilte uns mit, dass wir sofort wieder nach Berlin müssten, weil wir den "Großen Preis" gewonnen hätten. Ich bin durch mein Haus gesprungen, hab jeden geküsst, habe getanzt und geschrien. Da war mehr als ein Traum wahr geworden! Das bedeutet so viel: Anerkennung für den Film, für mich als Autor und Regisseur, für das ganze Team, die Schauspieler, für das Wagnis, einen anspruchsvollen Kinderfilm mit wenig Dialog riskiert zu haben, mit dem man sich den Ansprüchen eines künstlerischen Erwachsenenfilms annähert.
Ja und dann wurde es ganz irre, denn noch während der Abschlussfeier der Generation-Kinderfilm-Sektion wurden wir fortgezogen, weil wir für den besten Erstlingsfilm nominiert seien. Ich muss sagen, ich war noch ganz im Rausch über den Preis, den wir gerade bekommen hatten, sodass ich eigentlich gar nichts verstand. Von da an war es wie in einem seltsamen Traum. Als wir dann im Berlinale-Palast Platz nahmen, richteten sie die Kamera auf uns. Warum? Glaubst du, wir haben echt eine Chance? Nein. Ja! Und dann erhielten wir tatsächlich die Auszeichnung für den besten Debütfilm. Ich konnte und kann das immer noch nicht glauben.
Gab es für "Kauwboy" eigentlich eine Vorlage?
In Form eines Buches? Nein. Aber als ich zehn Jahre alt war, hatte ich auch eine Dohle. Sie kam eines Tages an mein Fenster geflogen und blieb drei Monate lang mein Vertrauter. Dann ist sie leider einem Freund in die Speichen seines Fahrrads geflogen. Die Geschichte selbst ist nicht autobiografisch, aber alles basiert auf Erfahrungen in meiner Kindheit.
Können Sie mir etwas darüber erzählen?
Ich war immer unterwegs. Ich bin auf die höchsten Bäume geklettert, immer bis zum Äußersten gegangen, habe alles ausgetestet. Wie Jojo bin ich am Rand eines kleinen Dorfes groß geworden. Hinter meiner Straße war die Autobahn, danach kam der Dschungel. In dem habe ich mit wilden Kaninchen gespielt, habe Kriege ausgefochten, schlief ich ein. Dort habe ich zum ersten Mal geküsst, dort bin ich verloren gegangen. Ich hatte meine eigene Welt.
All Ihre Filme scheinen soziale Themen zu behandeln. Wie kommt das?
Ich weiß es auch nicht so genau. Ich interessiere mich dafür seit meiner Jugend. Als Kind konnte ich keine Ungerechtigkeiten ertragen, ich habe mich deshalb manchmal auch geschlagen. Aber noch mehr reizen mich Illusionen, Trugbilder. Und die Verbindung von beidem kommt in all meinen Arbeiten vor. Mich interessiert, wie Fantasie-Bilder einem die Kraft zum Träumen geben, wie sie das Leben beeinflussen. Manchmal braucht man die Realität, um mit dem Leben fertig zu werden, manchmal braucht man die Fantasie, um mit der Wirklichkeit klar zu kommen. Film ist Illusion, Liebe ist Illusion, Träume sind es und dazu gehört das Erfinden von Geschichten, Malerei, Musik … Alles, was ich schön finde, scheint in gewisser Weise mit Illusion verknüpft. Meine Figuren nutzen ihre große Fantasie meist, um in der rauen Wirklichkeit des Lebens bestehen zu können.
In Ihren Geschichten ist die Mutter oft abwesend – gibt es dafür einen persönlichen Grund?
Meine Mutter war immer da. Ich liebe sie. Aber Sie haben recht: Ich weiß nicht, warum es so ist, dass die Mutter immer wieder schmerzlich vermisst wird. Es scheint, als ob ich selbst irgendetwas vermisse. In meinem nächsten Film macht sich ein Junge auf die Suche nach seiner Mutter ... Also spüre ich innerlich immer noch dieser Frage nach. Ich hoffe, dass ich imstande bin, sie Ihnen in einigen Jahren beantworten zu können.
Wie haben Sie Ihren Protagonisten gefunden?
Während eines langen Casting-Prozesses, in dem ich mir mehr als 300 Jungen angeguckt habe. Als Rick Lens in der Casting-Agentur erschien, hat er sich selbst vor der Kamera vorgestellt und währenddessen war das Rufen einer Dohle zu hören. War das Zufall?
Können Sie ein bisschen mehr über ihn sagen?
Rick ist wirklich ein harter Junge mit einem sehr weichen Herzen. Er ist andauernd in irgendwelche Kämpfe verwickelt, kann sich in der Schule nur schwer konzentrieren. Er hat diesen extra Tisch mit den Kopfhörern, um nicht andauernd abgelenkt zu werden. Rick hat eine große soziale Intelligenz. Nach zwei Tagen kannte er schon die ganze Crew, immerhin 40 Leute. Er hat sich sofort in das Mädchen, in Susan Radder verliebt, was sehr schön anzusehen war. Aber es war schwierig für ihn, seine Trauer zu zeigen. Sie war ganz hinter Schmerz und Zorn verborgen. Die Szene, in der er singt: "Happy birthday, liebe Mama" ist bestimmt deshalb so gut geworden, weil man hinter der Wut und dem ganzen Geschrei seinen Schmerz und die Tränen spürt. Seine Eltern haben sich übrigens kurz vor den Dreharbeiten getrennt, sie sind beide Polizisten.
Wie haben Sie die Szenen mit der Dohle hingekriegt?
Wir haben mit insgesamt sechs jungen Dohlen gearbeitet, die während der Dreharbeiten im letzten Frühjahr flügge geworden sind. Bis auf die Fahrrad-Szenen ist alles so aufgenommen worden, wie man es im Film sieht. Nur die Szenen auf dem Fahrrad sind Trickfilm-Animationen.
Was war das Schlimmste, was das Schönste während der Arbeit?
Was Schlimmes fällt mir nicht ein. Das Schreiben war schön, die Dreharbeiten, das Schneiden. Es tut mir leid, aber ich genieße einfach jede Minute in dem ganzen Prozess der Entstehung. Ich genieße es, wenn sich das Drehbuch zu lebendigen Bildern auf der Leinwand entwickelt; ich genieße es, sie dann dem Publikum zu zeigen. Auch das Erlebnis, dass so viele unterschiedliche Talente mit mir zusammen arbeiten, die alle an meine Geschichte glauben!
Wie hoch waren eigentlich die Kosten?
Das Budget betrug 1 Million Euro.
Und haben Sie für den Film auch schon einen Verleih in Deutschland?
Nach dem Festival haben sich auch ein paar deutsche Verleiher dafür interessiert, aber noch ist nichts definitiv. Für den Weltvertrieb ist Delphis Films zuständig.
Das Gespräch führte Uta Beth
Inhalt der Print-Ausgabe 130-2/2012
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