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Ausgabe 80-4/1999

PETITS FRÈRES

PETITS FRÈRES

Produktion: MK 2 Productions mit France 3 Cinéma; Frankreich 1998 – Buch und Regie: Jacques Doillon – Kamera: Manuel Teràn – Schnitt: Camille Cotte – Musik: Oxmo Puccino – Darsteller: Stéphanie Touly (Talia), Iliès Sefraoui (Iliès), Mustapha Goumane (Mous), Nassim Izem (Nassim), Rachid Mansouri (Rachid) u. a. – Länge: 92 Min. – Farbe – Verleih: offen Weltvertrieb: MK 2 Diffusion, 55, rue Traversière, F-75012 Paris, Tel.: 0033-1-4467 3011 Altersempfehlung ab 14 J.

Viele Trabantenstädte – vor allem rund um Paris – zählen in Frankreich zu den sozial eher problematischen Wohngegenden. Oft sind es Betonhochhäuser und Plattenbauten, in denen sozial schwache Familien untergebracht sind, mit einem hohen Anteil an Immigranten, vor allem Nordafrikanern (beurs) und Schwarzafrikanern. Es herrschen hohe Arbeitslosigkeit und das Recht des Stärkeren. Die Jugendlichen dort haben oft nur wenige Zukunftsperspektiven und schließen sich zu Gangs zusammen, um in dieser Umgebung wenigstens bestehen zu können. In diesem von Kleinkriminalität, Drogenhandel und Polizeirazzien geprägten Milieu spielt Jacques Doillons neuer Film, fast dokumentarisch mit Handkamera gedreht, mit sehr präzisen und intimen Beobachtungen über das Milieu, ohne es auch nur ansatzweise als oberflächliche oder gar plakative Folie für seine Geschichte über Freundschaft, Verrat und Versöhnung unter Jugendlichen zu missbrauchen.

Nach einem heftigen Streit mit dem gewalttätigen Stiefvater haut die 14-jährige Talia mit ihrem Kampfhund Kim von zu Hause ab und findet mit Hilfe einer Gruppe von gleichaltrigen Jungen, die von dem Marokkaner Iliès angeführt wird, Unterschlupf in einem benachbarten Wohnviertel. Obwohl sich Iliès schnell in Talia verliebt, stehlen seine Freunde mit seinem Wissen in der Nacht den Hund, der ihnen freilich gleich wieder von älteren Jugendlichen abgeluchst wird. Die richten das junge Kuscheltier zum scharfen Kampfhund ab, doch noch bevor Talia ihn "zurückkaufen" kann, wird er seinen Verletzungen nach einem illegalen Kampfwettbewerb erliegen. Iliès verschweigt Talia zunächst sein Mitwissen und den Aufenthalt des Hundes, will ihr aber bei der Wiederbeschaffung des Tieres helfen und besorgt ihr als Ersatz zunächst eine Schusswaffe. Nur damit glaubt sich das Mädchen noch gegen aufdringliche Jugendliche und vor allem gegen ihren Stiefvater schützen zu können, der sich offenbar an einer Freundin Talias sexuell vergangen hat und nun auch ihre jüngere Schwester bedroht. Obwohl die Schusswaffe mehrmals zum Einsatz kommt, setzt Doillon der drohenden Eskalation, die nur ein gängiges Klischee bedienen würde, lieber die zarte Liebesbeziehung zwischen der Jüdin Talia und dem Araber Iliès entgegen, die in einer Vision der friedlichen Koexistenz der verschiedenen Ethnien, Religionen und Völker in diesen verufenen Pariser Vororten endet und auch Talia eine kleine Zukunftsperspektive jenseits des beschädigten und schädlichen Elternhauses ermöglicht.

Nie hat man in diesem weitgehend authentisch wirkenden Film das Gefühl, hier wurde etwas in soziologischer oder pädagogischer Absicht aufgesetzt oder gar nur auf einen vordergründigen Schauwert hin inszeniert. Die jugendlichen Laiendarsteller sind perfekt geführt und wirken, als wären sie ganz unter sich und ohne die ständige Anwesenheit der hautnah am Geschehen beobachtenden Kamera. Das entspricht nicht immer den gängigen Sehgewohnheiten, gerade wenn Doillon lieber auf übermäßige Actionszenen verzichtet und bei den vielen kleinen und größeren Konflikten und nicht gesetzeskonformen Handlungen der kleinen Gangster sich eher um Sachlichkeit bemüht, was immer von großer Sympathie für seine jugendlichen Helden getragen ist.

"Petits Frères" (Kleine Brüder) ist eine manchmal beklemmende, immer sensible und differenzierende, aber auch optimistische und humorvolle Jugend-Studie über die tägliche strukturelle wie kriminelle Gewalt in den Vorstädten. Doillons Film hebt sich von anderen Filmen mit ähnlicher Thematik ab, weil dort meist schon etwas ältere Jugendliche im Mittelpunkt stehen, aber auch, weil er gleichzeitig die erstaunlichen Selbstheilungs- und Organisationskräfte in dieser Gemeinschaft zeigt, den Zusammenhalt und die Solidarität der Jugendlichen – und sei es nur, um mit vereinten Kräften die Verhaftung eines Gangmitglieds durch die Polizei zu verhindern – und weil er diesen Jugendlichen (und dem Publikum) auch ein Stück Hoffnung mit auf den Weg gibt für eine bessere Zukunft.

Holger Twele

 

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Ausgabe 80-4/1999

 

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