Produktion: Medusa / Sciarlò; Italien / USA 1999 – Regie und Buch: Giuseppe Tornatore, nach dem Theaterstück "Novecento" von Alessandro Baricco – Kamera: Lajos Koltai – Schnitt: Massimo Quaglia – Musik: Ennio Morricone – Darsteller: Tim Roth (Neunzehnhundert), Pruitt Taylor Vince (Max), Bill Nunn (Danny Boodman), Clarence Williams III (Jelly Roll Morton), Mélanie Thierry (junge Frau) u. a.- Länge: 121 Min. – Farbe – Verleih: Concorde (35mm) – Altersempfehlung: ab 14 J.
"Virginia" heißt das Passagierschiff, das zwischen der alten und der neuen Welt durch den Ozean dampft mit tausenden von Emigranten im Schiffsbauch, die ihre Heimat zurückgelassen haben. Beim Anblick der Freiheitsstatue – eine poetische Computer-Animation – bricht Jubel unter ihnen aus, in den Gesichtern spielt sich die Hoffnung auf ein besseres Leben. Für die Reichen der Luxusklasse ist die Atlantik-Passage hingegen eine Vergnügungsreise vom Feinsten. Sie gehen von Bord, ohne etwas zurückgelassen zu haben. Nicht mal einen alten Knopf, wie der auf dem Salonboden kriechende und nach Verlorenem suchende Schiffsheizer fluchend feststellt. Doch dann findet er einen Schatz: Auf dem Flügel steht eine Obstkiste mit einem Baby. Und weil wir den 1. Januar 1900 schreiben, wird der Knabe "1900" genannt. Viele Männer und ein Baby – es ist zu Herzen gehend, wie die rauen Kerle weich werden, wie sie den Kleinen erziehen und bilden. Wie den Worten "Mama" und "Waisenhaus" einfach eine andere Bedeutung gegeben wird, um das Kind zu schonen.
Eines Tages setzt sich 1900 ans Klavier und spielt. Aus dem Nichts heraus, einfach so. Die Besatzung eilt herbei, ist ergriffen. Schnitt: 1900, ein umjubelter Ozeanpianist, schon zu Lebzeiten eine Legende, die den berühmten Jazzpianisten Jelly Roll Morton anlockt. Es kommt zu einem virtuosen Duell auf den Tasten, bei dem der Ozeanpianist als Sieger hervorgeht. Jelly geht grollend von Bord. 1900 nicht. Obwohl er an Land eine Menge Geld verdienen, schöne Frauen haben und ein Star sein könnte, bleibt er auf dem Schiff – bis zum Untergang.
Aus einem Bühnenmonolog von Alessandro Baricco hat Giuseppe Tornatore ("Cinema Paradiso") einen opulenten Film inszeniert mit einem Ozeanriesen von Titanic-Format, mit hunderten von Statisten, die die schwimmende Welt des Ozeanpianisten bevölkern. Max, Jazztrompeter und Freund des Wunderkindes, erzählt uns die Geschichte – die wir in Rückblenden miterleben – getragen von tiefer Freundschaft und Bewunderung, die er für 1900 empfindet. Eine einseitige Beziehung, denn Menschen sind für 1900 lediglich die Quelle seiner musikalischen Inspirationen, Beziehungen braucht er nicht. Das Leben draußen ist ihm höchst suspekt, das Land mit den tausenden von Möglichkeiten, mit den vielen Menschen.
Als ihm eines Tages ein griechischer Auswanderer mit leuchtenden Augen von dem unvergessenen Erlebnis erzählt, erstmals den Ruf des Meeres zu vernehmen, hat 1900 ein existenzielles Problem: Um den Ruf hören zu können, muss er an Land. Schweren Herzens entschließt er sich dazu, um jedoch wieder umzukehren, ehe sein Fuß die Erde berührt hat. Ebenso folgt er nicht seinem Herzen, als ihm auf dem Schiff die Tochter des Griechen begegnet. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Nur weiß 1900 nicht, dass man Liebe nicht nur empfinden, sondern auch leben kann. Seine Gefühle münden in ein melancholisches Pianostück, das ein Welthit werden könnte, wenn er eine Konservierung zuließe. Tut er aber nicht. Bei der Zerstörung der Matrize zeigt er eine starke Gefühlsregung. Ansonsten ist er supercool, wie man heute sagt – ein Fremder in seiner geschlossenen Gesellschaft. Er ist nicht neugierig, fragt nicht nach dem Warum. Lebt in seiner Musik, die neben bekannten Jazznummern von Ennio Morricone für den Film komponiert wurde und die die Zuschauer bewegt wie die Wellen den Ozean. Max kann seinen Freund nicht zum Verlassen des abgewrackten Schiffs überreden. Denn der fürchtet den Tod eben so wenig wie das Leben, weil er das Gefühl der Angst nicht kennen gelernt hat.
"Die Legende vom Ozeanpianisten" ist ein faszinierender Stoff mit märchenhaften Aspekten, eine Suche nach eigener Identität, nach dem Sinn des Lebens – ein liebevoller Blick auf eine ungewöhnliche Kindheit, der im Laufe des Films jedoch an Kraft verliert, an der Oberfläche bleibt. Das letzte Gespräch zwischen Max und 1900 ist eine pathetische Szene, in der alte Weisheiten neu aufgesagt werden, philosophische Erklärungen und Ausführungen, die für Camus- und Sartre-Leser läppisch sein mögen. Aber für Heranwachsende, die den Existenzialismus noch als Keim in sich tragen, ist "Die Legende vom Ozeanpianisten" ein Gedanken anregender, Fantasie beflügelnder Film, der noch lange nachwirkt.
Gudrun Lukasz-Aden
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