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Ausgabe 105-1/2006

OLIVER TWIST – 2005

OLIVER TWIST

Produktion: Runteam II / ETIC / Medusa / R.P.; Großbritannien / Frankreich / Tschechische Republik / Italien 2005 – Regie: Roman Polanski – Buch: Ronald Harwood, nach dem Roman von Charles Dickens – Kamera: Pawel Edelmann – Schnitt: Hervé de Luze – Musik: Rachel Porter – Darsteller: Barney Clark (Oliver), Ben Kingsley (Fagin), Jamie Foreman (Bill Sykes), Harry Eden (Dodger), Leanne Rowe (Nancy), Lewis Chase (Charley Bates) u.a. Länge: 128 Min. – Farbe – Cinemascope, Dolby SRD – FSK: ab 12, ffr. – Verleih: Tobis – Altersempfehlung: ab 12 J.

Der geneigten Leserschar an dieser Stelle die Filmfabel von "Oliver Twist" zu präsentieren, hieße Aufklärungsarbeit zu "Rotkäppchen" leisten. Wer kennt nicht die sozial-romantische Mär des großen Charles Dickens (1812-1870) vom Aufstieg eines Waisenknaben aus lausigem Elend in den heimelnden Glanz gutbürgerlicher Geborgenheit! Zwar keine Schul-, aber Pflichtlektüre jedes Heranwachsenden. Dickens beschrieb zutreffend – nicht nur hier – den Manchester-Kapitalismus in ausführlicher Härte, aber auch immer ein wenig tröstlich, jedoch stets packend, aktionsreich, im besten Sinne unterhaltend. Knappe zwei Dutzend Adaptionen seit 1909 versuchten, diese Qualitäten für die Kinoleinwand oder das Fernsehen zu transformieren. Mit unterschiedlichem Erfolg. In guter Erinnerung sind die Fassung von 1948 (Regie: David Lean) mit Alec Guiness als Fagin und das Musical von 1968 (Regie: Carol Reed) mit ein bisschen viel Tanz und Gesang im Dreck. Nun also Polanski. Was ist anders?

Polanksi erzählt filmisch "alles genau wie im Buch" (Die Welt), er setzt Dickens' Prosastrukturen adäquat ins bewegte Bild, aber protegiert einen anderen Hauptdarsteller – das frühkapitalistische London mit seinen Auswüchsen. Was im Roman den Hintergrund abgibt, ist im Film der stets treibende Anlass für alle Akteure in allen Aktionen – ein Moloch, in dem Menschlichkeit nicht vorkommt, und der diese nicht zulässt, wenn's ums Überleben geht. Hier sind die gedachten, jedoch nicht inszenierten Parallelen zur eigenen Kindheit im Ghetto und zu vorangegangenen Filmen ("Der Pianist") zu finden, auf die der Regisseur selbst hinweist.

Polanskis Schauplatz ist stets düster, die Bilder sind wuchtig, lakonisch und hintergründig zugleich (Kamera: Pawel Edelmann). Scheinbar ohne jede Hoffnung. Dass die Story dennoch zum guten, versöhnlichen Ende gelangt, hat Dickens so gewollt, Polanski folgte ihm und relativierte es auf diese Weise. Das allgemeine Elend bleibt und versinkt nicht tränenreich im Happy End. Die "Bösen" werden bestraft, die "Guten" belohnt, aber nur in diesem Falle. Die Welt ist nicht anders geworden. Diese geringe, nicht geringfügige Akzentverschiebung wird wesentlich getragen vom enorm aufwändigen sowie Detail versessenen und stimmigen Dekorationsbau der Prager Barrandov-Studios. Polanski war zu Recht des Lobes voll über diese Arbeit.

Der Widerstreit Teufel gegen Engel findet hier seinen gebührenden Rahmen, macht ihn verständlich und spannend. Ein ungleiches Duell. Ben Kingsley brilliert als Fiesling Fagin, er zieht alle Register seiner Darstellungskunst. Dazu fordert die Rolle auf und mitunter scheint es, als zeige er diese Möglichkeiten geradezu vor. Kinderdarsteller Barney Clark kann da nicht mithalten, sondern nur dagegen – in anmutiger Unschuld als Typ und von der Rolle so vorgegeben. Dass sich Professionalität und kindliche Ausstrahlung nicht gegenseitig behindern oder gar aufheben, sondern gleichberechtigt zur Geltung kommen, ist das Inszenierungsverdienst des Regisseurs. Polanksi weiß, wem er was schuldig ist und hat dabei immer auch den Zuschauer im Auge. Er gerät – selbstverständlich! – nicht in die Nähe von Süßlichkeit. Alle anderen Rollen und Darstellungen ordnet er diesem Paar zu.

Das sind dann gute, aber keine überragenden Leistungen wie bei Jaimie Forman als Bill Sykes oder Leannae Rowe als Nancy; dem Wohltäter Mr. Brownlow (Edward Hardwicke) gehören ohnehin unsere Sympathien. Diese Figur macht den Film, dem es an Emotionen nicht mangelt, vielleicht kompatibel auch für jüngere Zuschauer. Denn die Wogen der Gefühle schlagen hoch, und mit Rachel Porters manchmal sehr pathetischen Melodien schippern wir durch alle Höhen und Tiefen menschlicher Unbill und sinken schließlich zurück in den sicheren Kinosessel: "Damals war's ..." Und heute?

Wer aber zur Sicherheit lieber noch mal nachlesen möchte, dem sei Dickens Roman im Original (Aufbau Verlag, Berlin) empfohlen. Wer noch Mal nachempfinden möchte, was er sah, dem sei das – obligatorische – Buch zum Film (Gerstenberg Verlag, Hildesheim) ans Herz gelegt. Wer aber lieber die Ohren aufsperrt, für den hat der Audio Verlag das Kinderhörspiel, vom Südwestrundfunk produziert, in petto.

Joachim Giera

 

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Ausgabe 105-1/2006

 

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