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Ausgabe 105-1/2006

Unterhalten mit Welthaltigkeit

Ein Gespräch mit Regisseur Calle Overweg und Produzent Volker Ullrich über ihren Dokumentarfilm "Die Villa"

(Interview zum Film DIE VILLA. GESCHICHTEN AUS DEM HEIM)

Geschichten aus dem Alltag eines Ostberliner Kinderheims erzählt der neunzigminütige Dokumentarfilm "Die Villa". Produziert wurde er von Känguruh-Film Berlin, die sich seit ihrer Gründung 1976 hauptsächlich auf Dokumentarfilme und —reihen spezialisiert haben. Bekannt geworden ist Känguruh-Film vor allem mit der preisgekrönten Langzeitdokumentation "Berlin – Ecke Bundesplatz" (seit 1986). Auch für Kinder produziert Känguruh-Film erfolgreich: Zum Beispiel erhielt ihr Film "Von Straßenkindern und grünen Hühnern" 1991 den "Goldenen Spatz" beim Kinderfilmfestival in Gera.

Auf Calle Overweg aufmerksam wurde Volker Ullrich von Känguruh-Film 1996 durch Overwegs Dokumentation über sieben Kinder und was sie einmal werden wollen, "Grünschnäbel" (DFFB / ZDF). Der Film erhielt den Förderpreis als "Bester Absolventenfilm deutscher Filmhochschulen". Zum Film kam Calle Overweg auf Umwegen: Er studierte Jura und Agrarwirtschaft, arbeitete als Bankkaufmann und ging als Puppenspieler auf Tournee, bevor er 1989-1995 an der DFFB Film studierte. Eine Nominierung für den Grimme-Preis brachte ihm sein dokumentarischer Spielfilm "Tumber Narr, heiliger Tor" (ZDF / 3sat, 2000) ein. "Das Problem ist meine Frau" (3sat) wurde 2003 als Beste Dokumentation ausgezeichnet.

Calle Overweg und Volker Ullrich haben zwischen 2001 und 2004 gemeinsam vierzehn Kinderporträts für "Die Sendung mit der Maus" für das Kinderprogramm des WDR realisiert. Der dort verantwortliche Redakteur Jochen Lachmuth ist auch bei der im Auftrag des WDR entstandenen Produktion "Die Villa" der Dritte im Bunde.

KJK: Eine Dokumentation in Spielfilmlänge für Kinder ist eher ungewöhnlich. Wie kam es dazu? War es schwierig, das Projekt zu realisieren?
Calle Overweg: "Für 'Die Villa' war ursprünglich die Ausstrahlung der drei Folgen à 30 Minuten über ein verlängertes Wochenende geplant, ich wollte noch eine zusätzliche Langfassung. Als es dafür grünes Licht gab, kam das doch überraschend. Aber wir hatten in Jochen Lachmuth auch einen starken Fürsprecher beim WDR."<
Volker Ullrich: "Der Auftrag vom WDR lautete zunächst einmal nur 'für Kinder'. Das Genre des Dokumentar-Langfilms für Kinder wiederzubeleben war schon immer ein starker Wunsch von uns. Durch unsere dreijährige Zusammenarbeit für 'Die Sendung mit der Maus' sind Jochen Lachmuth, Calle Overweg und ich ein eingespieltes Team. Wir hatten daher relativ freie Hand, wobei es natürlich immer auch um Quote geht. Da kamen uns der öffentlich-rechtliche Auftrag und die Größe des Senders zugute. 'Die Villa' ist nun ein Testballon vom WDR, es gibt für unser Format noch keinen Sendeplatz, da es nichts Vergleichbares gibt. Denkbar wäre der Platz im Anschluss an die Telenovela, da laufen zurzeit die 'Zoogeschichten' mit Riesenquote."

Herr Overweg, in Ihren filmischen Arbeiten setzen Sie sich immer wieder mit dem Themenkomplex "Kinder und Familie" auseinander. War "Kinderheim" Ihre Idee?

Calle Overweg: "Die Idee stammte von Jochen Lachmuth, der ein bestimmtes, privat geführtes Kinderheim im Auge hatte, über das wir eine Doku-Soap machen sollten. Daraus wurde nichts, weil gerade gegen den Leiter Anzeige erstattet und das Heim geschlossen wurde. Alternativ sollten wir dann in einem Internat filmen, aber das mochte ich nicht. Ein Kinderheim schien mir erzählwürdiger."
Volker Ullrich: "Unsere Absicht war es, eine Gegenposition zu der gängigen Darstellung in den Medien zu beziehen, in denen Heime immer negativ besetzt sind. Und wir wollten den Schrecken der Kindheit auflösen, den Mythos vom Heim als drohende Strafe für Ungezogenheit. Heim ist Zuflucht, nicht der Ort, an den der Aussatz zur Seite geschoben wird."

Wie sind Sie dann auf die "Villa Kunterbunt" gestoßen?
Calle Overweg: "Ich habe in Berlin recherchiert, einfach weil das mein Standort ist. Viele Heime lehnten ab. Kinderheim ist mit Scham besetzt, da gibt es viele Vorbehalte. Beim ersten Heim, das sich bereit erklärte, unser Filmen zuzulassen, habe ich zugegriffen. Das war die 'Villa Kunterbunt' in Karlshorst. Ein Türöffner waren da unsere Kurzfilme für 'Die Sendung mit der Maus'. Dadurch hatten wir auch keine Schwierigkeiten, die Genehmigungen der Eltern zu bekommen."

Die "Villa Kunterbunt" – ein Kinderheim wie viele andere?
Calle Overweg: "Die Villa ist ein typisches altes Ost-Heim. Die Erzieher machen sich hier weniger Illusionen über ihren Job als vielleicht in westdeutschen Heimen. Sie schätzen sachlich ein, wie viel Liebe ihnen für ihre Schützlinge zur Verfügung steht. Ein weiterer wesentlicher Faktor sind wie überall die Kosten. Die Sozialämter machen Druck, weil der Unterhalt sehr teuer ist, 150 Euro pro Tag. Darum werden die Unterbringungsmaßnahmen häufig überprüft. Es ist die Heimphilosophie, die Beziehung der Kinder zu den Eltern aufrecht zu erhalten. Aber oft ist das Heim einfach die bessere Alternative. Ich habe bei meinen Recherchen einige Elternhäuser besucht, da herrschen teilweise unfassbare Zustände, katastrophal."

Erzählen Sie bitte von Ihren Dreharbeiten mit den Kindern aus dem Heim.
Calle Overweg: "Das war ziemlich schwierig, die Kinder haben sich gewehrt. Es ist ja so, dass die
Beziehungsstörungen, die mangelnde Fähigkeit zu sozialen Bindungen erst nach und nach deutlich werden. Mal hatte ich Zugang zu einem der Kinder gefunden, dann wurde wieder dicht gemacht. Lydia war als einzige verbindlich, hat sich zuverlässig an Absprachen gehalten. In ihr steckt Stabilität. Den fertigen Film fanden dann übrigens alle richtig gut."

Die begleitenden Kommentare im Off klingen, als wenn sie von den Kindern selbst stammten. Doch für den Text sind Sie verantwortlich. Was hat es mit dem von Ihnen entwickelten "geführten Kommentar" auf sich?
Calle Overweg: "Kinder sind meistens keine guten Selbstdarsteller, da ist dieser geführte Kommentar eine gute und in meinen Filmen bewährte Technik. Die Kinder sind damit einverstanden und fühlen sich richtig vertreten. Ich lege den Kindern ja nichts in den Mund oder zwinge sie, etwas zu sagen, was sie nicht wollen. Es geht mir darum, kompakt und flüssig mit den Kindern zu erzählen. Ich führe richtige Gespräche mit ihnen, keine Frage-Antwort-Interviews, und ich filme, was mir wichtig ist. Dann überlege ich, mit welchem Kommentar ich die Bilder dramaturgisch verdichten kann und schreibe alles auf, inklusive der Emotionen. Wenn ihnen etwas missfällt, dann wird es geändert. Dominik zum Beispiel wollte nicht sagen, dass er an 'ADS' (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom) leidet; also haben wir seinen Text geändert."

Stichwort Sexualität: Ein wichtiges Thema im Leben von Heranwachsenden. Dieser Bereich fehlt jedoch gänzlich in Ihrem Film.
Calle Overweg: "Sexualität ist ein eigenes Kapitel, das wir aber im Hinblick auf unsere Zielgruppe – Kinder ab zehn Jahren – bewusst ausgelassen haben. Nico und Sindy beispielsweise waren zusammen, haben sich wie ein altes Ehepaar gestritten, aber sie wollten nicht dabei gefilmt werden. Zu der Zeit war Sex einfach kein großes Thema in der Villa. Nach dem Dreh allerdings ist Maria von einem Jungen aus dem Heim schwanger geworden."

"Die Villa" lief zum Beispiel auf der Filmwoche Duisburg (31.10.- 6.11.2005). Wie ist die Resonanz auf Ihren Film? Gibt es unterschiedliche Reaktionen von Kindern und Erwachsenen?
Volker Ullrich: "In Duisburg mussten wir noch eine zweite Schulvorstellung ansetzen, so groß war das Interesse der Schulen. Leider wurde den 4. bis 7. Klassen nur eine der drei Episoden gezeigt. Den Langfilm gab es in einer Sondervorführung am Sonntag. Die Aufnahme ist durchweg positiv, von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen. Der Film spricht sich gut herum."
Calle Overweg: "Bei der ersten Vorführung mit den Villa-Kindern und Erziehern waren alle sehr angetan. Da gab es schöne Reaktionen: 'Das sind ja wir!', oder 'Darüber müssen wir einmal nachdenken'. Die Kinder sind Aufmerksamkeit gar nicht gewohnt, das war ein großes Erlebnis für sie."

"Die Villa" bietet sich besonders für die Diskussion im Schulunterricht an. Ist eine DVD vorgesehen, wird es pädagogisches Begleitmaterial geben? Oder ist sogar eine Kinoauswertung denkbar?
Volker Ullrich: "Bislang ist keine DVD geplant. Der Wunsch, unseren Film auch außerhalb des Fernsehens zeigen zu können, ist natürlich da. Aber realistisch betrachtet gibt es keinen Markt für einen Verleih und die große Kinoauswertung. Das könnte höchstens über Festivals und kleine Kinos laufen. Dies ist primär eine Frage der Finanzierung, den Schnitt etc. müsste Känguruh-Film auf die eigene Kappe nehmen."

Noch ein paar Zahlen: Wie hoch war das Budget, wie lange betrug die Dreh- und Produktionszeit?
Volker Ullrich: "Unser Budget betrug nur 100.000 Euro. Die Idee mit den Trickfilmsequenzen entstand erst während der Produktion, die haben noch einmal zusätzlich rund 25.000 Euro gekostet. Vom ersten Drehtag bis zum Final Cut waren das acht Monate, von April bis Dezember 2004. Inklusive der Drehortrecherche haben wir insgesamt anderthalb Jahre für den Film gebraucht."
Calle Overweg: "Davon hat allein die Trickfilmproduktion ca. ein halbes Jahr beansprucht. Sie erforderte eine intensive Zusammenarbeit mit der Animatorin Roswitha Menzel und dem jeweiligen Kind, dessen Geschichte wir erzählen wollten. Mit Lydia beispielsweise haben wir zwei Stunden nur daran gefeilt, ihre eigene Geschichte herauszufinden."

Wie geht es weiter mit Calle Overweg und Känguruh-Film, mit der "Villa"?
Calle Overweg: "Volker Ullrich und ich machen aktuell für das ZDF 'Grünschnäbel II', quasi einen zweiten Teil zu meinem DFFB-Abschlussfilm, in dem wir erfahren, was aus den Kindern und ihren Zukunftswünschen von vor zehn Jahren geworden ist. Außerdem denken wir an eine weitere Dokumentation über Kinder in einer Gruppensituation, voraussichtlich in einer Hauptschule."
Volker Ullrich: "Eine 'Villa 2' wird es nicht geben. Aber ich wünsche mir, dass 'Die Villa' Beispiel macht und auch andere Sender und Geldgeber inspiriert, hier mehr zu wagen. Es muss nicht immer seicht sein, man kann auch mit Tiefe und Inhalt erfolgreich sein. Unser Film ist nicht Disney, ist nicht Action und wird dennoch angenommen. Kinder müssen an solche Themen wieder herangeführt werden, das Interesse ist da. Den Filmkanon für Schulen halte ich in diesem Zusammenhang für eine gute Idee."

Mit Volker Ullrich und Calle Overweg sprach Ulrike Seyffarth

Kontakt Calle Overweg: c.overweg@web.de / Kontakt Volker Ullrich: info@kaenguruh-film.de

 

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