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Ausgabe 128-4/2011

"Aber wir müssen eben auch an das Kind denken!"

Gespräch mit Mark de Cloe, Regisseur des niederländischen Spielfilms "Der stärkste Mann von Holland"

(Interview zum Film DER STÄRKSTE MANN VON HOLLAND)

KJK: Da findet ein Junge von 12 Jahren am Ende nicht nur seinen Herzens-Vater und die Liebe, sondern auch noch seinen biologischen Vater samt 38 Halb-Geschwistern – handelt es sich bei dieser modernen Familien-Geschichte um einen Originalstoff oder gab es sie schon als Buch?
Mark de Cloe: Nein, sie wurde extra für diesen Film geschrieben und die Idee für diese Geschichte kam auch nicht von mir. Aber als ich das Drehbuch las, hatte ich sofort Lust, es in Szene zu setzen. Mich hat begeistert, wie sich der Hauptdarsteller da aus lauter nicht zusammengehörenden Teilen eine vollständige Familie zusammenbaut; ich fand es spannend, ein Familienkonzept jenseits der normalen Strukturen darzustellen. Früher gab es schließlich Familien mit 12 Kindern, heute haben wir vielleicht drei, zwei oder auch nur ein Kind. Oder eben 39! Aber mal abgesehen von der lustigen Pointe stellt sich dabei ja die ernsthafte Frage, wie wir eigentlich umgehen mit den Kindern von Samenspendern. Denn heute wird es für uns normal, Leute zu kennen, die vor vielleicht 15 oder 20 Jahren auf diese Weise künstlich entstanden sind. Zum Beispiel gibt es in Amsterdam eine Menge lesbischer Paare, die Kinder haben – und der biologische Vater kann sie gar nicht oder vielleicht nur am Wochenende sehen, das hängt von den vorher geschlossenen Verträgen ab. Vielleicht liebt der Vater das Kind aber, weil es ja doch auch sein Kind ist, und dann sagen die Frauen, das geht jetzt zu weit, wir kippen diese möglicherweise zuvor ausgemachte Wochenend-Regelung – und der Vater wird wieder abgeschafft. Also, da gibt es viel Kuddelmuddel, eine Menge, was schief gehen kann. Ich maße mir da kein Urteil an – aber wir müssen eben auch an das Kind denken!

In einer packenden Szene wirft Luuk seiner Mutter vor, seine Existenz beruhe ganz allein auf ihrem Egoismus – an ihn habe sie bei ihrer Entscheidung gar nicht gedacht!
Ja, das ist etwas, das in diesem modernen westlichen Leben passiert, und es ist auch gut, dass Menschen, die Kinder wollen, aber keine Kinder kriegen können, heutzutage zu einer Samenbank gehen und ihren Kinderwunsch verwirklich können.  Auch, wenn zwei Frauen oder zwei Männer heiraten und Kinder haben wollen, ist das in der modernen Welt möglich. Aber dennoch wird es immer so sein wie im Mittelalter: dass man wissen möchte, wer ist mein Vater. Es gibt immer solche Momente im Leben, wo du deine biologischen Wurzeln und deine eigene Geschichte aufspüren willst.

Der unglückliche Luuk fragt seine Mutter, warum sie sich als seinen biologischen Vater ausgerechnet einen kleinen rothaarigen Mann ausgesucht hat, worauf sie ihm an den Kopf wirft, das nächste Mal würde sie sich für Brad Pitt entscheiden!  Da wird höchst unterhaltsam ein ganz entscheidender Punkt thematisiert – nämlich das Auswahlverfahren.

Ja, da kommt eine sehr ernsthafte Diskussion auf uns zu. Wenn man ins Internet guckt, kann man sich heute schon aussuchen, wen man am besten zum Vater seines Kindes macht – wahrscheinlich den Mann mit den meisten guten Anlagen, dem besten Aussehen und den blausten Augen. Auf diese Weise werden wir in den nächsten Jahren verstärkt Kinder haben, die einem angesagten Ideal von Model-Typen entsprechen … Also da gibt es auch einiges in der modernen Gesellschaft, das sich zwar positiv aus der Evolution herausgebildet hat, über das man aber gründlich nachdenken muss, weil sich daraus bestimmte Konsequenzen ergeben. Das betrifft zum Beispiel auch die Abtreibung, was natürlich eine gute Möglichkeit ist, wenn du zu früh schwanger oder Opfer einer Vergewaltigung geworden bist, aber heute passiert es ja auch, dass du abtreibst, weil du dann deine Promotion vergessen kannst, dich nächste Woche bewerben musst oder noch kein Haus zusammen gespart hast! Ich meine, ich bin nicht gegen Abtreibung, aber bei diesem ganzen Planen – das gilt ja auch in Bezug auf das Geschlecht des Kindes –, verlieren wir etwas von der Spiritualität, die es in jeder Kultur gibt. In einigen Ländern sind die Haltungen in Bezug auf die Abtreibung noch sehr altmodisch, regelrecht unterdrückend, aber in der westlichen Welt ist das Verständnis inzwischen so klinisch geworden, so rational wissenschaftlich. Das Geheimnis um ein Kind geht verloren – ich meine, das ist ja schon seltsam: Wir verlieben uns, werden ein Kind haben, und es wird unser ganzes Leben verändern. Wenn aber alles bis in jede Kleinigkeit voraus geplant wird, fehlt jede Vergeistigung.

Durch die Szene mit dem Bullen, dem man den Samen abnimmt, taucht dieses Thema im Film schon auf, bevor klar ist, dass Luuk das Kind eines Samen-Spenders ist.

Ja, bei den Tieren gilt ja das darwinistische Auswahlprinzip, d.h. für die Züchtung wählt man den stärksten Bullen und dieser ist wirklich sehr, sehr stark, einer der besten in der ganzen Welt. Sein Samen wird weltweit verkauft. Diese Szene ist deshalb so wichtig, weil man die Rauheit, die Brutalität und den Schock braucht. Schließlich gehört zu der Entscheidung für das Reagenz-Baby nicht nur die märchenhafte Farbe, sondern eben auch das Derbe, das diesem Akt innewohnt. Die Szene war sehr schwer zu drehen und auch zu schneiden, weil wir für den Dreh erst mal kein Geld hatten und ihn deshalb auch nur mit einer Mini-Crew machen mussten. Mit den Schauspielern haben wir die Szene später dann anderswo gedreht und beides ineinander geschnitten.

Haben Sie ein persönliches Interesse an diesem Thema?
Nicht wirklich, nein. Also bei mir ist es nichts Autobiographisches. Da ist nur die Faszination, wie sich einer eine Familie selbst zusammenbaut. Ich hatte eine behütete Kindheit, mit Eltern und Geschwistern, Schwestern, also ich kann mich wirklich nicht beklagen – und heute habe ich selbst zwei Söhne von 11 und 6 Jahren. Aber ich konnte mich in Luuk gut hinein versetzen, weil ich als Kind eine Brille hatte und ein bisschen so war wie der Junge, der, wenn er sich schlägt, erst mal die Brille absetzt, damit sie nicht kaputt geht. Aber man lernt, wie man damit überlebt. Ja, und ich habe gelernt sehr hart zu arbeiten, weil meine Eltern nicht wollten, dass ich auf die Kunstschule gehe. Sie wollten für mich einen Beruf, womit man anständig verdient. Was für einen Künstler nicht zutrifft, da hatten sie absolut recht – noch dazu in den 80er-Jahren, wo es in Holland noch mehr Arbeitslosigkeit gab als heute. Ich habe auch schnell mitgekriegt, dass zum Filmemachen nicht nur Talent gehört, sondern auch ständiges Arbeiten.

Wie sind Sie denn zum Filmen gekommen?
Angefangen hat es damit, dass ich den "Krieg der Sterne" im Fernsehen gesehen habe und danach eine Reportage darüber, wie diese Hippies in Los Angeles, alles Männer mit langen Bärten, diese Figuren und herrlichen Monster kreiert haben. Da habe ich begriffen, dass man eine eigene Welt erschaffen kann. Das wollte ich auch und deshalb bin ich nicht auf die Filmschule, sondern auf die Rietveld-Akademie gegangen, eine Kunsthochschule in Amsterdam, wo ich viel gemalt und viel mit Visualisierungen erzählt habe. Da war es natürlich extrem schwierig, Geld zu bekommen. So produzierte ich selbst eine Reihe Kurzfilme und drehte 2009 meinen ersten Spielfilm "Het Leeven uit een Dag". Außerdem habe ich etliche Werbefilme gemacht – heute fragen sie mich leider nicht mehr. Sie merken wahrscheinlich, dass ich lieber Spielfilme machen möchte.

Ist der "Stärkste Mann von Holland" Ihr erster Kinderfilm?
Ja. Der Film wurde für das Fernsehen gedreht, wir hoffen aber, dass wir ihn auch in die Kinos bringen können. Ich fand die Arbeit sehr schön. Die Energie am Set ist toll, man hat ein familiäreres Gefühl als beim Erwachsenenfilm – und dann dieses Kinder-Publikum. Das ist schon das beste Publikum, das man kriegen kann, weil es so ehrlich und dankbar ist. Wenn Kinder einen Film mögen, ist ihr Enthusiasmus überwältigend, einfach toll.

Wo haben Sie gelernt, die Schauspieler zu führen?
Ich absolvierte nach der Kunstschule noch eine einjährige Zusatzausbildung am Amsterdamer Maurits-Binger-Institut. Dort hatte ich unter anderem einen sehr intensiven Workshop mit Istvan Szabo und Margarethe von Trotta und lernte, wie man ein Drehbuch schreibt. Ich arbeite so, dass ich die Szene aufnehme und dann das Gleiche noch mal ohne Dialog drehe, das funktioniert sehr gut. Mein erster Film hat gar keinen Dialog, weil ich die Geschichte in Bildern erzählen wollte – ich hatte richtig Angst vor dem Dialog, ich meine in Englisch, Französisch und Italienisch geht das noch, aber Niederländisch ist irgendwie zu konkret, zu nackt.

Erzählen Sie bitte noch was über die Schauspieler.
Gern. Luuk, also Bas van Prooijen, ist ja eine Art Anti-Held. Sehr aufgeweckt, mit seinem Kopf weiter als mit seinem Körper und manchmal aus Selbstschutz ein bisschen zynisch. Wir haben ihn gecastet und er war richtig professionell, ein echtes Naturtalent. Yenthe Dirks, seine Freundin Minke, wiederum ist sehr schüchtern. Sie hat sich immer hinter ihren Haaren versteckt, weil sie nicht wagte, ihm in die Augen zu gucken. Ich habe sie dann alleine losgeschickt und üben lassen, einander immer so drei Minuten in die Augen zu starren. Sie hat es dann ja auch wirklich sehr gut gemacht – aber nach den Drehs war sie doch im Nu fort.

Die Kinder haben sich während des Drehs sicher auch verändert, oder?

Ja. Bas hat innerhalb von fünf Monaten eine tiefere Stimme bekommen. Das war im Ton-Studio ein Problem, wogegen wir nichts tun konnten.

Erzählen Sie noch was über Doreen und den 'starken Mann'?
Suzan Boogaerdt, die die Mutter spielt, ist eine richtig toughe Frau, die mit einer anderen Frau zusammenlebt. Sie spielt natürlich, glaubwürdig, hat vor nichts Angst und ist eben auch schön – und Loek Peters, also der "Herzensvater" René, ist ein kommender Star bei uns. Ich bin mit ihm auch zu der Show der stärksten Männer gefahren, wir mussten ja wissen, wie diese Männer gehen, wie sie reden und sich bewegen. Das hat viel Spaß gemacht. Und er hat dem Jungen dann nicht nur beim Training, sondern auch bei seiner Darstellung sehr geholfen, hat ihm Tipps für sein Spiel gegeben – und wurde so zu dieser Herzensvater-Figur.

Das Gespräch mit Mark de Cloe führte Uta Beth

 

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Ausgabe 128-4/2011

 

Inhalt der Print-Ausgabe 128-4/2011|

Filmbesprechungen

ALS DER WEIHNACHTSMANN VOM HIMMEL FIEL| ATMEN| BON VOYAGE – GUTE REISE| DER STÄRKSTE MANN VON HOLLAND| GEKIDNAPPT| IM WELTRAUM GIBT ES KEINE GEFÜHLE| LAURAS STERN UND DIE TRAUMMONSTER| LOU| DER MANN, DER YNGVE LIEBTE| MONSIEUR LAZHAR| PRINZESSIN LILLIFEE UND DAS KLEINE EINHORN| DIE SCHLÜMPFE| SOMMER IN ORANGE| THE RUNWAY – DER FREMDE PILOT| THE YEAR DOLLY PARTON WAS MY MOM – ALS DOLLY PARTON MEINE MUTTER WAR| TOM SAWYER| WICKIE AUF GROSSER FAHRT| WUNDERKINDER|

Interviews

de Cloe, Mark - "Aber wir müssen eben auch an das Kind denken!"| de Jonge, Dick und Bea Appels - "Heute ist keine Zeit für Idealismus"| Niehage, Dagmar - "Pommes Essen" – Eine starke David gegen Goliath-Geschichte|

Hintergrundartikel

GEKIDNAPPT| AUF LEISEN PFOTEN|

Kinder-Film-Kritiken

"Gute Reise"| "Als Dolly Parton meine Mutter war"|


KJK-Ausgabe 128/2011

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