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Ausgabe 128-4/2011

AUF LEISEN PFOTEN

A PAS DE LOUP

(Hintergrund zum Film AUF LEISEN PFOTEN)

Regie, Kamera, Schnitt: Olivier Ringer; Belgien / Frankreich 2011 – Länge: 77 Min.
Altersempfehlung: ab 8 J.

Dokumentation der Filmvorführung im Rahmen von 34. Generation Kplus / 61. Berlinale 2011

Inhalt
Wie jedes Wochenende muss die sechsjährige Cathy mit ihren Eltern raus aufs Land fahren. Viel Lust hat sie dazu nicht, denn erst dauert die Autofahrt von Paris zum Landhaus schier ewig, dann ist alles, was Spaß machen könnte, verboten, und ansonsten kümmern sich ihre Eltern nicht um sie. Es ist gerade so, als wenn Cathy unsichtbar wäre. Was wäre, wenn sie einfach nicht mit ihnen zurück in die Stadt führe – würden ihre Eltern das überhaupt bemerken? Um das herauszufinden, bleibt Cathy heimlich zurück und versteckt sich für ein paar Tage und Nächte im Wald – ganz allein, nur in Gesellschaft eines Fischs im Eimer.

Reaktionen während der Vorstellung
Wie für die Filmvorstellungen der Kinderfilmsektion der Berlinale üblich, herrscht von Beginn an gespannte Aufmerksamkeit, in diesem Jahr erstmals im großen Saal des Hauses der Kulturen der Welt. Während der Vorführung ist auffällig, dass bei vielen Szenen eher die Erwachsenen reagieren respektive lachen (vor allem über verbale Witze in Cathys kindlich-philosophischem Monolog). Die Kinder im Publikum gehen mehr bei Slapstickeinlagen und physischen Witzen mit (der Angler, den Cathy ins Wasser schubst, Cathys Versuch, Fliegen zu erschlagen, der pupsende Hund). Begeistertes Ekeln ruft der verspeiste Regenwurm hervor, bei den (möglicherweise giftigen) Pilzen ist allgemeines Gemurmel zu vernehmen – das junge Publikum ist offensichtlich vollkommen bei der Sache bzw. ganz bei der Protagonistin. Es gibt einige spannungsgeladene und bedrohlich wirkende Szenen, deren dunkle Bilder mit unheilvoller Musik unterlegt sind. Ein kleinerer Junge sitzt plötzlich sehr aufrecht in seinem Kinositz, als in der zweiten Nacht etwas Unbekanntes um Cathys Holzverhau schleicht (der Hund). Auch in der Szene der Verfolgungsjagd im Wald, die in der Videoästhetik à la "Blair Witch Project" gedreht ist, wirkt nicht nur dieser Junge sehr angespannt. Insgesamt löst vor allem der große Hund deutlichere Reaktionen bei den Kindern aus, da lange Zeit unklar bleibt, ob er Beschützer oder Bestie ist – was sicherlich auch daran liegt, dass Cathy ihn durchgehend mit "Biest" (bête) anspricht.

Reaktionen nach der Vorstellung
Nach der Vorstellung hat das Publikum Gelegenheit, Regisseur Olivier Ringer und dessen Tochter Wynona, die Darstellerin der Cathy, zu befragen. Diese wird vor allem von den "Jungen Journalisten" der Berlinale genutzt, um fachkundige Fragen zu stellen: "Ist das eine echte Geschichte?" ("Nein, aber eine, die so hätte passieren können. Es ist eine erfundene Geschichte mit einem echten Mädchen.") – "Sind die Eltern wirklich so?" ("Vielleicht ein bisschen.") – "Wie alt ist die Darstellerin der Cathy?" ("Heute acht, beim Film war sie sechs Jahre alt.") – "Wo wurde gedreht?" ("In den Ardennen, nahe Paris.") – Auch das Schicksal des Fischs bewegt die Gemüter: "Wo ist der Fisch jetzt?" ("Es wurde mit vier Fischen gedreht …")
Die Hauptdarstellerin Wynona Ringer wird danach gefragt, ob sie im Dunkeln Angst hatte oder sich vor den Spinnen und Würmern geekelt hat (ihre Antwort lautet beide Male "Nein").
Sechs Mädchen im Alter zwischen 7 und 12 Jahren (je zwei sieben, acht und zwölf Jahre alt) geben mir im Anschluss an die öffentliche Fragerunde bereitwillig Auskunft (Jungen waren leider nicht dazu zu bewegen). Der Film hat ihnen gut (vier Stimmen) und sehr gut (zwei Stimmen) gefallen, weil er "viele Emotionen hat". Er war "spannend" (z. B. die Szenen mit dem großen Hund), "lustig" (z. B. als Cathy sich den Kopf an ihrer Holzhütte stößt, der lebendige Fisch auf dem Teller liegt oder Cathy den Angler ins Wasser stößt) und auch "traurig" (wenn die Eltern ohne Cathy wegfahren, als der Fisch im Bach verlorengeht). Die Szene an der Tankstelle, als die Eltern zunächst ohne Cathy wegfahren, wird von allen Mädchen als bedrohlich empfunden. Dasselbe Gefühl haben sie, als "die Eltern Cathy allein am Haus zurücklassen" – interessanterweise wird die Verantwortung hier den erwachsenen Figuren zugeordnet, obwohl es Cathys Entscheidung ist, nicht ins Auto zu steigen.
Auf die Frage, ob Cathy tatsächlich unsichtbar für ihre Eltern ist, widersprechen die Kinder einhellig. Eine Zwölfjährige interpretiert, dass die Eltern einfach beschäftigt waren und sich das in "Cathys eigener Welt anders anfühlt, denn sie haben ihr ja beispielsweise 'Gute Nacht' gewünscht oder sie zum Essen gerufen". Die zweite Zwölfjährige findet es "logisch, dass sie wegläuft" – was sie selber (und auch die anderen befragten Kinder) nie tun würde. "Höchstens für eine Stunde" könnte sie es im Wald allein aushalten, sonst hätte sie da zu viel Angst.
Die Einschätzung der Dauer von Cathys Waldabenteuer fällt altersmäßig unterschiedlich aus: Die jüngeren tendieren zu ein, maximal zwei Tagen, die älteren Mädchen halten drei oder vier Tage für realistisch, "aber es fühlt sich für Cathy länger an". Tatsächlich sind es sechs Tage und Nächte. Danach gefragt, ob Cathy sie an jemand anderen erinnert (sie will nie groß werden), antworten alle unabhängig voneinander mit "Pippi Langstrumpf" (Peter Pan wird wider Erwarten nicht genannt).
Ausnehmend gut gefällt den sieben- und achtjährigen Mädchen, dass Cathy mit den Tieren spricht und "immer sagt, was sie fühlt". Großen Eindruck auch auf die älteren macht Cathy damit, wie gut sie im Wald zurechtkommt. Dass die "Zaubersamen", die Cathy nach dem missglückten Pflanzversuch im Wald "beerdigt" hat, dank der Pflege ihres Vaters doch noch aufgehen, hat eine der Achtjährigen besonders begeistert.
Alle befragten Kinder würden gerne wissen, wie es nun weitergeht mit Cathy und sind zuversichtlich, "dass sich etwas ändert und ihre Eltern sich jetzt mehr um sie kümmern". Sie würden den Film ihren Freunden weiterempfehlen und befinden ihn auch für ältere Kinder für "geeignet und gar nicht langweilig".

Verwendbarkeit des Films für die Kinderkulturarbeit
Der Film ist konsequent aus Cathys Perspektive erzählt, sowohl visuell (die Erwachsenenfiguren bleiben verschwommen "out of focus" oder werden von hinten und aus größerer Distanz gezeigt) als auch auf der Sprachebene, die dem Publikum Cathys Gedankenwelt als inneren Monolog mitteilt. Diese unmittelbare Nähe zu der kindlichen Protagonistin kreiert Empathie und ein Identifikationsangebot, das auch jüngeren Kindern zugänglich ist. Der empfundene Mangel an Aufmerksamkeit und Zuwendung seitens der Eltern, das Gefühl, als Person und in den eigenen Bedürfnissen nicht ernst- oder wahrgenommen zu werden, dürfte zumindest temporär jedem Kind vertraut sein. Cathys Eltern sind keine außergewöhnlich verantwortungslosen oder gefühlskalten Exemplare, sondern ganz normal berufs- und alltagsgestresste Eltern, die nur in Cathys Interpretation besonders abwesend wirken. Cathys Verschwinden in die (mitunter furchteinflößend inszenierte) Einsamkeit des Waldes wird als kathartisches Abenteuer erzählt, das sie dank ihrer tierischen Gefährten – erst der Fisch, dann das "Biest", der große Hund – nicht völlig allein durchlebt. Die Anspannung beim mitfiebernden Publikum (mutterseelenallein im Wald, unheimliche Geräusche nachts, das Auftauchen der mit Gefängnis assoziierten Polizei usw.) wird zudem wiederholt durch kurze heitere Episoden (Regenwurmessen, Fliegenfangen) aufgelockert. Nicht zufällig erinnern Cathys rotes Kleid, der Wald und der große Hund an Rotkäppchen – die Märchensymbolik "entschärft" die im Prinzip dramatische Situation und zugrundeliegende Psychologie. In oft märchenhaft anmutenden Bildern stellt der Film die existenzielle Frage "Wer bin ich?" in der Variation "Gibt es mich, auch wenn ich für andere unsichtbar bin?", und er beantwortet diese letztlich positiv.
Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass der Film auch eine weit düsterere Interpretation zulässt: Cathys erschreckend konsequenter Alleingang, der sich sämtlichen Versuchen der sehr wohl besorgten Erwachsenen, sie (ins Leben) zurückzuholen, massiv verweigert und im Monolog eine Hoffnungslosigkeit und Endgültigkeit ausdrückt, lässt sich durchaus als Todessehnsucht deuten – und beispielsweise die Szene, in der das Mädchen am Rande eines Felsens steht und sich Mut zum Springen zuredet ("Es ist ganz einfach, nur ein kleiner Schritt …"), als Suizidversuch. Andererseits konnte dieser Eindruck zumindest bei den befragten Kindern im Publikum nicht festgestellt werden. Kindern dürfte das erfolgreich bestandene Abenteuer ihrer filmischen Stellvertreterin Mut machen – und Spaß allemal. Für die Kinderkulturarbeit ist der Film somit empfehlenswert.

Ulrike Seyffarth

 

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