© Neue Visionen
Produktion: Eyeworks Film Gemini GmbH; Deutschland 2013 – Regie: Bettina Blümner – Buch: Katharina Kress, nach dem gleichnamigen Roman von Alina Bronsky – Kamera: Mathias Schöningh – Schnitt: Inge Schneider – Musik: Ali Askin – Darsteller: Jasna Fritzi Bauer (Sascha), Ulrich Noethen (Volker Trebur), Max Hegewald (Felix Trebur), Vladimir Burlakov (Peter), Jana Lissovskaja (Mascha) u. a. – Länge: 94 Min. – Farbe – Verleih: Neue Visionen – FSK: ab 12 – Altersempfehlung: ab 14 J.
Träumen Jugendliche dieses Alters gewöhnlich vom ersten Sex oder vom Ende ihrer Vormundschaft durch die Eltern, malt sich die 17-jährige Russlanddeutsche Sascha (überzeugend dargestellt von Jasna Fritzi Bauer) lieber aus, wie sie ihren Stiefvater Vadim kaltblütig um die Ecke bringen könnte. Der hatte in ihrem Beisein ihre Mutter erschossen und verbüßt dafür gerade seine Gefängnisstrafe.
Sascha wohnt mit ihren zwei Geschwistern in einer tristen Hochhaussiedlung. Jetzt versorgt Mascha, die Cousine des Stiefvaters, die drei. Zwar schlägt der das Herz auf dem rechten Fleck, und sie versteht es, die Geschwister mit ihren Kochkünsten zu wärmen, aber die bürokratischen Alltagsgeschäfte erledigt Sascha besser weiter selbst. Während die 17-Jährige in dem Wahn lebt, wie eine Erwachsene alles abwickeln zu können, verdecken ihre coolen, entwaffnenden Sprüche hingegen nur notdürftig, dass sie selbst Zuwendung bräuchte, dass das Leben in diesem Ghetto sie in Wahrheit fertig macht. Formal zeigt sich das darin, dass die Regisseurin es vermeidet, das Ghetto zu ästhetisieren, Das Geschehen hat sie in flauen Farben inszeniert. Wenn sich die Heldin im Freien aufhält, fährt die Kamera oft parallel neben ihr her. Zielstrebig und energisch durchmisst Sascha den Raum, eben weil hier für sie immer etwas zu regeln ist, aber auch als wolle sie die Herkunft aus der verwahrlosten Wohnmaschine von sich abschütteln. Der Hintergrund bleibt zumeist unscharf. Derart verdeutlicht die Kamera Saschas Sicht, die sich dem Anblick des Migrantenviertels wohl am liebsten verschließen würde.
So flüchtet sich Sascha dann auch in das Haus des Redakteurs Volker Trebur, als sie die Cousine des Stiefvaters mit deren Liebhaber erwischt und sich damit für sie das Drama ihrer Mutter zu wiederholen beginnt. Insgeheim hofft sie, in diesem bürgerlichen Mann den Retter aus ihrer Misere gefunden zu haben. Der hatte ihr seine Hilfe angeboten, weil er einen sensationsheischenden Artikel über den Stiefvater gebracht hatte. Seine luxuriöse, weitläufige und natürlich ökologisch korrekte Bauhaus-Designervilla mit Schwimmbad bildet die Gegenwelt zum Ghetto, wenngleich Sascha feststellen muss, dass auch bei den Treburs nichts wirklich stimmt. Auch sie können ihr kein wärmendes Familiennest bieten. Und als Sohn Felix wegen seines Lungenleidens ins Krankenhaus muss, vergreift sich der Vater fast noch an der minderjährigen Sascha. Desillusioniert kehrt die Heldin in ihr altes Leben zurück, wo sich schließlich ihre große Frustration in Zerstörungswut entlädt, bei der sie selbst schwer verletzt wird. Wieder genesen, macht sie sich auf den Weg nach Prag, um auf Einladung ihres leiblichen Vaters dessen Familie kennen zu lernen.
Auch wenn diese Geschichte aufgrund des Gegensatzes von Ghetto und bürgerlichem Zuhause doch etwas schematisch gebaut zu sein scheint, beeindruckte der dem Film zugrunde liegende Adoleszenzroman "Scherbenpark" durch den lässig-überheblichen Stil, in dem die Ich-Erzählerin Sascha in Rückblicken ihre Geschichte dem Leser vorträgt, dem dabei nach und nach ihre innere Not aufgeht. Verschreibt sich der Roman aber ganz der Sicht seiner Heldin, bricht Blümners Film diese Unbedingtheit, indem er vorführt, dass die Heldin sehr wohl durchschaut wird. Er strafft Saschas Erzählungen entschieden, versieht sie mit einem Hauch Pikanterie und verstärkt das Gehetzte, Getriebene, Defensiv-Aggressive der Figur. Damit büßt Saschas Charakter aber nicht nur an Vielschichtigkeit ein, sondern verliert auch an Stärke. Im Roman überwindet Sascha ihre Depression und löst die adoleszente Verstrickung mit der Vaterfigur. Sie befreit sich von ihrer Familie und macht sich auf nach Prag, um dort ihre Sommerferien zu genießen. Der Film hingegen stellt die Heldin bloß und verrät sie damit. Am Ende ist die Demontage der Hauptfigur unübersehbar. Nachdem die Rettung durch den bürgerlichen Volker gescheitert ist, beginnt im Film die Suche nach dem männlichen Erlöser und der heilen Familie von vorn.
Heidi Strobel
Inhalt der Print-Ausgabe 136-4/2013
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