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Ausgabe 98-2/2004

ELEPHANT

Produktion: HBO Films / Meno / Blue Relief; USA 2003 – Regie und Buch: Gus Van Sant – Kamera: Harris Savides – Schnitt: Gus Van Sant – Darsteller: Alex Frost, Eric Deulen, John Robinson, Elias McConnell, Jordan Taylor, Carrie Finklea, Nicole George, Brittany Mountain, Timothy Bottoms (Mr. McFarland), Matt Malloy (Mr. Luc) u. a. – Länge: 81 Min. – Farbe – FSK: ab 12 – Verleih: Kinowelt (35mm)

Ein Tag in einer amerikanischen High-School – ein Tag wie jeder andere, mit mehr oder weniger engagierten Schülern, die sich kleine oder große Fluchten suchen. Mit ganz normalen Begegnungen, Be- und Empfindlichkeiten, mit Launen, Stimmungen, Lust und Frust.

Da ist zum Beispiel Eli, der an diesem warmen Herbsttag durch den Park schlendert und ein Punk-Pärchen fotografiert. Oder der attraktive Nate, der sich nach dem Fußballtraining mit seiner Freundin Carrie trifft; die beiden melden sich im Schulverwaltungsbüro ab, wo geschäftiges Treiben herrscht. John hinterlegt dort gerade den Autoschlüssel seines alkoholisierten Vaters. Die drei Freundinnen Brittany, Jordan und Nicole gehen in die Cafeteria, wo sie am Büffet sorgfältig auswählen, was sie kurze Zeit später wieder auskotzen werden. Alex schaut sich um, macht sich Notizen für einen Plan. Eli zieht weiter mit seinem Fotoapparat, hinein ins Schulgebäude, wo ihm John begegnet, der für ihn im Vorbeigehen posiert. Im Fotolabor der High-School entstehen Momentaufnahmen, letzte Fotos.

Die Kamera folgt den Schülern, beobachtet, porträtiert sie. Klassentüren öffnen sich, Lehrer vermitteln Wissen, Seminarleiter parlieren und diskutieren, Schüler bewegen sich zielsicher wie in einer großen Firma, wissen was sie tun.

Die Kamera verlässt die High-School – Alex spielt zu Hause hingebungsvoll "Für Elise" auf dem Klavier, während sein Freund Eric auf dem Sofa per Computerspiel völlig entspannt jede Menge Menschen killt. Ein Bote bringt das offensichtlich lang erwartete Paket. Erst jetzt, nach über einer Filmstunde, spürt man, dass es doch kein Tag wie jeder andere ist. Die beiden Jungen duschen zusammen, kleiden sich an, als zögen sie in einen Krieg, aus dem sie nicht mehr lebend zurückkehren werden. Vor der Schule treffen sie auf John, warnen ihn, hineinzugehen. Und kurz danach beginnt der "schrecklichste und schönste Tag", wie es einer der beiden jugendlichen Täter formuliert, berauscht von der Macht, die ihnen die Präzisionswaffen verleihen, fasziniert von der Herrschaft über Leben und Tod.

Der amerikanische Filmemacher Gus Van Sant, 1953 in Kentucky geboren, lässt sich Zeit für seine Betrachtungen. Der Film beginnt mit ruhigen, unspektakulären Szenen im Park, auf dem Sportplatz, dem Rasen – mit einer Totale, in der sich die Menschen bewegen, nicht die Kamera. Die Innenaufnahmen im Reportagestil hingegen sind totale Bewegung. Die Kamera ist dicht hinter den Protagonisten oder sieht ihnen entgegen. Gus Van Sant spielt mit verschiedenen Zeitebenen, filmt aus unterschiedlichen Blickwinkeln dasselbe. Die Vornamen der Schüler werden eingeblendet, allesamt keine Schauspieler, sondern "echte" Schüler, die eigene Erlebnisse und Empfindungen in den Film mit einbrachten, die die Dialoge improvisierten. Durch die Authentizität der Darstellung und des Ortes – eine High-School in Portland/Oregan, wo der Regisseur lebt – wird der Zuschauer hineingezogen in den High-School-Alltag, ist Teil davon.

Allein in den USA rasteten zwischen 1997 und 1999 achtmal Schüler mit tödlichen Folgen aus. Gus Van Sant fühlte sich herausgefordert: "Ich wollte einen Film machen, der einzufangen versucht, was für eine Stimmung unter den Schülern herrschte, die damals zur Schule gingen." Das ist ihm gelungen, nicht mehr und nicht weniger. Er sucht nicht nach psychologischen Erklärungen für das Verbrechen, stellt keine Fragen, gibt keine Antworten, sondern betrachtet das Thema Gewalt an Schulen aus einem anderen Blickwinkel. Die Dramaturgie steuert nicht auf das katastrophale Ende zu. Das Massaker selbst ist so etwas wie eine Fußnote, unwirklich, nicht fassbar, läuft ab wie ein Film, dem man aus der Ferne zusieht, leise, präzise, unaufhaltsam, manchmal in Zeitlupe. Tiefschwarze Wolken ziehen herauf und die Sonne verfinstert sich, als die beiden bewaffneten Schüler sich auf den Weg machen. Apokalypse now. Mit Musik, die das Geschehen in andere Sphären rückt.

Der Titel übrigens ist eine Verbeugung Gus Van Sants vor seinem britischen Kollegen Alan Clarke, der 1989 die Gewalt in Nordirland unter dem Titel "Elephant" für die BBC thematisierte. Gus Van Sant sieht eine Parallele zu seinem Film insofern, als die Jugendlichen in Amerika zwar in einer anderen, aber ebenfalls sehr gewalttätigen Epoche leben. Bei Clarke bezog sich der Titel auf den Spruch, dass manche Probleme sich so leicht übersehen lassen wie ein Elefant im Wohnzimmer ... Diane Keaton, Schauspielerin und Regisseurin, bei diesem Film Executive-Producer, war tief beeindruckt "von der Reinheit des Werkes". Auf internationalen Festivals errang Gus Van Sants Film höchste Anerkennung und wurde mit renommierten Preisen, u. a. der Goldenen Palme in Cannes 2003, ausgezeichnet.

Die FSK hat diesen Film ab 12 Jahren freigegeben – eine fragwürdige Entscheidung. Denn "Elephant" ist ein Film, der Erwachsene verstört, weil er weder Fragen stellt noch Hintergründe analysiert, keine Haltung zu dem Schul-Massaker sichtbar wird. Jedenfalls empfiehlt sich eine Vor- und Nachbereitung mit jungen Zuschauern.

Gudrun Lukasz-Aden

 

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