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Ausgabe 98-2/2004

"Lust am Rollentausch"

Gespräch mit Ella Lemhagen, Regisseurin des Films "Hin und Her" ("Tur och Retur")

(Interview zum Film HIN UND HER)

KJK: Nachdem Sie für Ihren Film "Tsatsiki, Mama und der Polizist" vor vier Jahren gleich viermal mit dem schwedischen "Guldbagge" und anschließend in Berlin mit dem "Gläsernen Bären" ausgezeichnet wurden, wollten Sie erst mal keine Kinderfilme mehr machen.
Ella Lemhagen: "Ja, ich wollte nicht als Kinderfilm-Macherin abgestempelt werden und habe, obwohl ich laufend Angebote dafür bekam, bis zu 'Hin und Her' auch keinen Kinderfilm mehr, sondern einen Thriller und einen anderen Spielfilm für Erwachsene gedreht. Und auch als mir meine Produzentin Charlotta Denward diesen Stoff schmackhaft zu machen versuchte, war ich sehr zögerlich."

Was hat Sie bewogen, den Film dann doch zu machen?
"Die Idee für 'Hin und Her' beruht auf einer norwegischen Kurzgeschichte. Dort sind es zwei Mädchen, die im Flughafen aufeinander treffen, und als ich das las, hatte ich erst keine Meinung dazu. Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass diese Geschichte erzählt wird, und mit den Problemen von Kindern, deren Eltern sich getrennt haben, hatte ich mich ja schon in 'Tsatsiki' beschäftigt. Man versuchte mich umzustimmen, ich lehnte ab. Erst als wir auf die Idee kamen, eine der beiden Mädchen zu einem Jungen zu machen, bekam ich Lust. Mich hat der Rollentausch interessiert, die Frage, was passiert, wenn man sein Geschlecht wechselt. Welche Erwartungen werden da an dich gestellt? Das war die Herausforderung für mich und so fing ich an, das Drehbuch zu schreiben."

Sie spielen nicht nur die Frage durch, was passiert, wenn ein eher jungenhaftes Mädchen zum Jungen und ein eher mädchenhafter Junge zum Mädchen wird, Sie spielen mit allen Rollen. Da ist zum Beispiel die dicke Mutter von Martin, dessen Vater auch nicht gerade den landläufigen Vorstellungen von einem Mann entspricht. Und da ist der He-man Pollux, der die Barbie-Puppe heiratet und schwärmt, dass ihre Frisur aussieht wie eine Hochzeitstorte.
"Pollux kam übrigens erst später dazu, jemand anders ist auf die Idee gekommen und ich fand das so gut, dass ich ihn gleich eingebaut habe. Ich meine, Pollux gibt es nicht wirklich, aber 'Die Gladiatoren'. Das ist bei uns eine sehr populäre Fernseh-Show – die läuft jeden Freitag und jeder kennt die. Da haben die Leute eben Namen wie Plexus und ähnliche."

Durch die Zuspitzung werden die Rollen aber auch wieder gebrochen und als solche durchschaubar.
"Ganz genau und das hat mich auch am meisten an dieser Geschichte interessiert. Es hat unglaublich Spaß gemacht, mit den Erwartungen in Bezug auf einen Mann oder eine Frau zu spielen, weil der Film zeigt, wie die heranwachsenden Kinder in ihren verschiedenen Rollen behandelt werden. So im Nachhinein, wenn ich mir den Film jetzt angucke, denke ich, wir hätten vielleicht sogar noch weiter gehen können damit. Und es ist nicht bloß im Kinderfilm interessant, mit diesen Rollen zu spielen, ja, man könnte da ruhig noch weiter gehen. Dahinter steht ja die Frage, ob wir eigentlich als Individuen oder als Repräsentanten unseres Geschlechts akzeptiert werden."

Wie kommt es eigentlich, dass nur Martin diese Einbildungen hat? Ich denke da an die Szene im Flugzeug, als er sich von der Stewardess als "Mimose" geoutet fühlt, oder als der Pianist Roger Wells zu ihm aus dem Fernseher kommt.
"Weil er ein Träumer ist, braucht er das mehr als Julia, die mit beiden Beinen auf der Erde steht. Er hat ja auch diese Passion fürs Klavier, die im hinterwäldlerischen Norden nicht akzeptiert wird. Ich habe lange darüber nachgedacht, welche Leidenschaft ich ihm geben könnte, als ich eher zufällig an den berühmten Robert Wells dachte, der ein richtiger Star bei uns ist. Da kam ich auf die Idee, Martin Klavier spielen zu lassen, und ich glaube, das war perfekt. Jeder weiß, dass Wells diese langen Haare hat, und wenn Martin Klavier spielt, wundert sich niemand, dass er auch so aussehen möchte wie Roger Wells. Damit passten Julias Haare auch zu dem klassischen Klaviertyp Martin."

Sie mischen in Ihrem Film realistische und phantastische Szenen – und man muss erstaunlich viel lachen bei diesem Thema.
"Ja, ich mag das selbst gern, und dass es lustig ist, kann man gar nicht vermeiden, wenn man jemand in eine andere Rolle und andere Familie steckt. Wenn man eine Geschichte über getrennte Familien realistisch und sozialkritisch zeigt, würde der Film sehr depressiv sein, sehr dunkel und ganz bestimmt nicht amüsant. Aber ich ziehe es vor, mit Phantasie, bunten Farben und unerwarteten Ereignissen zu arbeiten, weil ich eben nicht böse und ernst sein will, auch wenn es natürlich ein sehr ernstes Thema ist."

Wie ist das mit den "kosmischen Zwillingen"? Manche vermuten dahinter irgendeine tiefere Bedeutung. Für mich ist das mit den sich treffenden Glassplittern eher ein schiefes Bild.
"Ursprünglich hatten wir am Anfang des Films eine Sequenz, in der Julias Mutter ihrer Tochter das Kaleidoskop schenkt und dabei von kosmischen Zwillingen erzählt. Also dass man plötzlich jemanden trifft, der einem das Gefühl gibt, wie ein Zwilling von ihm zu sein, und das sei so unerwartet, wie wenn plötzlich in einem Kaleidoskop die umher schwebenden Glasstücke aufeinander treffen. Sie versucht, Julia damit zu erklären, wieso sie sich plötzlich in jemand anders verliebt hat und warum man dagegen machtlos ist. Wir haben diese Szene auch gedreht, aber dann schien sie uns für den Anfang einfach zu lang und auch entbehrlich. Wenn Julia auf dem Flughafen von 'kosmischen Zwillingen' spricht, klingt es jetzt mehr wie etwas, das sie irgendwo aufgeschnappt hat. Hätten wir die Anfangssequenz drinnen gelassen, wäre das alles etwas dick aufgetragen, zumal die Erklärung von Julias Mutter auch wirklich ein bisschen schief ist. Sie bezeichnet sie später, als sie sich wundert, dass ihre Tochter das Kaleidoskop immer noch hat, selbst als Unsinn. Nein, die kosmischen Zwillinge sind ein Bild ohne tiefere Bedeutung, da ist nichts Metaphysisches im Spiel."

Wie haben Sie Amanda Davin gefunden und was hat sie für die Doppelrolle ausgezeichnet?
"Wir haben sie aus mehreren 1000 Kindern ausgewählt. Wir haben viele Castings gemacht, sind aber auch in die Schulen gegangen. Ich arbeite mit einer Frau zusammen, die darauf spezialisiert ist, Kinderdarsteller zu finden, und sie hat Amanda in ihrer Schule aufgetan – dort hat sie erst ein Interview mit ihr gemacht. Das habe ich mir als Video angeguckt und Amanda gefiel mir von Anfang an. Aber natürlich haben wir immer wieder Tests gemacht, mit ihr und den anderen, meistens Mädchen, aber natürlich waren auch einige Jungen dabei. Ja, und Amanda war von allen die beste, nicht nur, weil sie eine sehr gute Schauspielerin ist, sondern auch von ihrem Äußeren. Sie hat dieses Gesicht und die Stimme, die eben auch zu einem Jungen passt – also sie war auch ein sehr gutes 'Material' zum Arbeiten, wenn man das so sagen kann. Sie, wie übrigens auch Julia, haben beide schon in einem Kurzfilm gespielt, aber es war ihr erster Spielfilm, und sie haben es ganz toll gemacht."

Was ist Ihr nächstes Projekt?
"Noch nichts Konkretes. Ich schreibe ein paar Sachen, ich lese viele Drehbücher und dann erwarte ich mein drittes Kind. Also wir werden sehen, was kommt."

Interview: Uta Beth

 

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