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Ausgabe 98-2/2004

Porträt Jacques Doillon

Autorenfilmer, (Kinder-)Schauspieler-Regisseur

(Hintergrund zum Film PONETTE)

Jacques Doillon zählt zweifelsohne zu den bedeutenden Autorenfilmern Frankreichs: 28 Langfilme hat er seit den frühen Siebzigern inszeniert, zählt man fünf Ausflüge ins Fernsehen mit. Als Cutter und Assistent hat er in den 60er-Jahren begonnen, hat unter Alain Robbe-Grillet gearbeitet und als Co-Regisseur bei Alain Resnais fungiert. 1974, also nunmehr vor genau 30 Jahren, debütierte Doillon, der am 15. März 2004 bereits 60 geworden ist, mit "Les doigts dans la tête", seitdem hat er nahezu alljährlich einen Film inszeniert, geschrieben und zuweilen auch produziert.

Jacques Doillon, der 2004 also ein Doppeljubiläum begehen kann, er ist nicht so recht einzuordnen, ist keiner filmischen Schule zugehörig oder einer Tradition verpflichtet, auch die Nouvelle Vague hat er als Außenstehender beobachtet. Ähnlich wie seine Regie-Kollegen Claude Miller ("Das Auge", "Das Verhör") oder Jean-Jacques Beineix ("Diva", "Betty Blue") gehört er der sogenannten Zweiten Generation an, die den Veteranen Chabrol, Truffaut & Godard folgten. Heute gilt er primär als einfühlsamer und präziser (Kinder-)Schauspieler-Regisseur, dem nichts wichtiger ist als seine Darsteller und die von ihm verfassten Dialoge, die sie zu sprechen haben: "Ich bin ein Dialogist, entweder schreibe ich selbst oder aber zusammen mit einem Co-Autor". Und so gibt es auch nur zwei Adaptionen in seinem umfangreichen Werk.

Die Arbeit mit Kindern respektive Jugendlichen ist Doillon wichtig, in "Le petit criminel" (1990) etwa, einem seiner jüngeren und auch bekannteren Filme, ist dies sehr gut nachzuvollziehen. Diesem Jugend-Drama folgte später das Drama einer trauernden Kinderseele, "Ponette". Wenn er mit Kindern dreht, muss er lange mit ihnen sprechen und ihnen vor allem zuhören. "Le petit criminel" und "Ponette" sind hierfür die besten Beispiele: "Ich bin absolut darauf angewiesen, mit den Kindern zu reden, sie zu verstehen, ihnen lange zuzuhören – um später dann die passenden Dialoge schreiben zu können. Hätte ich 'Ponette' direkt geschrieben, dann wäre es wohl ein ganz normaler, gewöhnlicher Film geworden, ein Kinderfilm, geschrieben von Erwachsenen. Und nach all diesen Monaten der Beschäftigung mit wirklich kleinen Kindern sollte es mir möglich sein, über ein Mädchen zu schreiben, das gerade erst vier Jahre alt ist und seine Mutter verliert. Dennoch gab es Momente, wo ich die Befürchtung hatte, mehr und mehr unsensibel zu werden".

Auf den Filmfestspielen von Venedig 1996 erhielt die kleine Victoire Thivisol, Hauptdarstellerin in "Ponette", den Preis als Beste Darstellerin. Zu diesem Zeitpunkt war Victoire gerade mal vier Jahre jung und die Auszeichnung, überhaupt der ganze Film, sorgte für Aufruhr. "Ponette" entstand bereits im Jahr 1995 und stellt denn auch in gewisser Hinsicht eine Provokation dar, nicht nur, weil der Regisseur und Autor seine zur Drehzeit nicht einmal vierjährige Protagonistin mit dem Thema des Todes und der hiermit verbundenen existenziellen Trauerarbeit über Wochen des Drehs konfrontiert, sondern auch durch den inszenatorischen Umgang mit diesem mitunter immer noch gesellschaftlich völlig tabuisierten Sujet. Der Tod als Bestandteil unseres Lebens, als unumgängliche Tatsache, mit der wir uns allesamt früher oder später zu beschäftigen haben.

Doillon setzt eine Vierjährige diesem gravierenden Schockmoment aus: Ponettes Mutter (Marie Trintignant) verunglückt bei einem tragischen Autounfall, ihr Vater versucht ihr, den Tod irgendwie beizubringen. Doch Ponette lehnt sich auf, rebelliert, will nicht glauben, was ihr da gesagt wird. Sie beginnt auf ihre ureigene Weise nach ihrer Mutter zu suchen. Spricht mit ihr, geht ihr in Phantasien nach. Maman, maman!, ruft sie immer wieder und buddelt mit ihren kleinen Händen in der Erde des noch frischen Grabes.

"Ponette" und "Trop (peu) d'Amour" (1998) etwa sind zwei sehr unterschiedliche Filme, die inhaltlich und stilistisch nichts miteinander gemein haben, aber durchaus stellvertretend für viele Arbeiten in Doillons inzwischen umfangreichem Werk stehen: Das vielschichtige Kinder- und Jugenddrama hier, die meist kompliziert verquere Liebesgeschichte dort. "Trop (peu) d'Amour" schildert ein Dreiecksverhältnis, die Konstellation zwischen dem Schriftsteller Paul (Lambert Wilson), seiner Frau Margot und der erst 17-jährigen Emma, die den Autor bewundert und sich massiv in das Leben des Paares hineindrängt. Auf der Berlinale wurde dieser Film im Zoo-Palast ausgebuht und die krasse Zäsur, die zwischen dem meisterlich und subtil austarierten Kinder-Drama und der eher diffizilen Dreier-Liebe liegt, mag typisch Doillon sein. Auch "Carrément à l'Ouest" (2001) ähnelt letzterem.

Doillon selbst sieht dies freilich nicht so, meint, dass die Willensstärke Ponettes durchaus verwandt sei mit jener Emmas, meint weiterhin, dass seine Frauengestalten, die ganz jungen und die in den besten Jahren, durchaus viele Gemeinsamkeiten aufwiesen. Dass "Ponette" der stärkere, vielschichtigere und vor allem wichtigere Film ist, bleibt dennoch außer Frage. Er ist wohl der beste Doillon-Film, und eines der besten Kinderdramen überhaupt. Und mit ihm gehen die anderen Jugenddramen Doillons einher. Selten nur hat man auf der Leinwand ein Kind derart eindrucksvoll spielen sehen, man glaubt Victoire Thivisol jeden Schmerzensschrei nach ihrer maman, man glaubt ihr die tiefe Verzweiflung, die sie in der Suche kompensiert, und in ihren Visionen, dass maman eines Tages natürlich zurückkommt. Das dürfte bis "Ponette" und seit "Ponette" schlichtweg einzigartig auf der Leinwand sein.

So wichtig Jacques Doillon seine Schauspieler und seine Dialoge sind, so wenig kümmert er sich um die finanzielle Seite seiner Produktionen: "Einige meiner Filme, etwa ein Drittel, habe ich begonnen, ohne auch nur irgendwelche Gelder zu haben. Bei meinem ersten Film habe ich einfach mein Auto verkauft." In seiner Radikalität geht Doillon weit, einige Filme dreht er quasi ohne ein reales Budget, und das vorherrschende Denken an ein Zielpublikum, welches in den Film zu locken sei, um zumindest dessen Herstellungskosten zu decken, ist ihm zuwider. "Bis heute drehe ich meine Filme, auch wenn sich keine Co-Produzenten finden – es gibt zwar kein Geld, also produziere ich selbst und drehe trotzdem! Da habe ich doch von der Nouvelle Vague gelernt."

"Ponette" wurde seinerzeit in über 30 Länder verkauft und dürfte somit die reinen Produktionskosten in Höhe von circa 13 Millionen Francs längst eingespielt haben. Überraschenderweise lief "Ponette" in den USA erfolgreich, ist dort bei Kritik und Publikum gleichermaßen auf positive Resonanz gestoßen. Dass "Ponette" erst zwei Jahre nach dem französischen Kinostart in die deutschen Kinos gelangte, konnte der Regisseur nicht verstehen: "Europa beunruhigt mich. Wenn ein französischer Film erst in den USA positiv aufgenommen werden muss, um in europäischen Ländern überhaupt noch einen Verleih zu finden ... In Frankreich jedenfalls zahlen wir noch nicht mit Dollars, sondern immer noch mit Francs bzw. nun Euro!" Verärgert ist Doillon auch über die Art und Weise, wie seine Filme dabei synchronisiert werden: "Einige meiner Filme wurden durch die Synchronisation massakriert, mit lächerlichen Stimmen, die alles zerstörten. Ich lehne so etwas ab. 'Ponette' zu synchronisieren hieße, sie auf freiem Feld zu erschießen!"

Thilo Wydra

Die Zitate entstammen Gesprächen, die Thilo Wydra mit Jacques Doillon in Berlin geführt hat.

 

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